Heute beginnt die dritte Staffel der Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“, bei der ein Mädchen am Ende Suizid begeht. Experten warnen vor der Serie, weil sie einen sogenannten „Werther“-Effekt auslöse. Was ist denn so problematisch daran?
christa Rados: Der englische Titel „Thirteen Reasons Why“ ist noch viel treffender. In 13 Folgen wird jeweils ein triftiger Grund dargestellt, warum sich ein 17-jähriges Mädchen umgebracht hat. Es läuft unausweichliche auf das Ende zu – ohne Hoffnungsschimmer, was letztlich unrealistisch ist. Hätte man es ausgewogener dargestellt, wäre der Ausgang vielleicht nicht mehr so eindimensional negativ gewesen. Problematisch ist auch, dass Personen, die eigentlich für junge Menschen als Hilfspersonen da sein sollten, wie Lehrer, Eltern oder sogar der Schulpsychologe, noch eins draufgesetzt haben. All das kann für junge, vielleicht labile Menschen am Ende eventuell ein Anstoß sein, konkret über Suizid nachzudenken.
Diese Hannah fungiert also als Identifikationsfigur?
Ja, das Identifizierungspotenzial mit ihr ist speziell in der Risikogruppe sehr groß, sie fungiert als positive Gestalt.
Mittlerweile wurde die erste Staffel auch wissenschaftlich untersucht. Was sind die Ergebnisse und wer ist durch die Serie nachweislich besonders gefährdet?
Eine in der Fachzeitschrift „Jama Psychiatry“ erschienene Studie eines Teams der MedUni Wien um Thomas Niederkrotenthaler belegt, dass die Zahl der Suizide in der Gruppe der 10- bis 19-Jährigen in den USA binnen drei Monaten nach Serienstart auffällig hoch war, Mädchen waren dabei stärker betroffen als Burschen. Die Suizidrate ist, gegenüber den Vergleichsjahren von 1999 bis 2017, um 13 Prozent gestiegen. Das waren zusätzlich 94 tote Jugendliche – eine sehr bedrückende Zahl.
Nach heftiger Kritik ruderte Netflix in der zweiten Staffel ein wenig zurück – mit Warnhinweisen oder Hilfsnummern. Ist das aus Ihrer Sicht ausreichend?
Anscheinend geht es bei dieser Serie vorwiegend darum, Tabuthemen von Jugendlichen aufzugreifen. Auch in der zweiten Staffel reiht sich eine Katastrophe an die nächste und endet mit einem gerade noch verhinderten Amoklauf. Prinzipiell sollte Suizid kein Tabuthema sein. Die Wahrheit sollte Jugendlichen in geeigneter Form durchaus zumutbar sein, wobei es vor allem darum geht, Auswege aus der Krise und Lösungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt zu stellen – leider versagt hier die Netflix-Serie. Und es wäre zu raten, sich das nicht alleine anzusehen. Das Problem von „Tote Mädchen lügen nicht“ ist nicht, dass Suizid thematisiert wird, sondern wie.
Das Gegenteil vom „Werther-Effekt“ ist der „Papageno-Effekt“, also die positive Bewältigung einer suizidalen Krise. Fällt Ihnen ein Beispiel aus der Filmwelt ein?
Mir fällt auf die Schnelle keine Serie ein, sondern die mediale Berichterstattung über den deutsch-kanadischen Eishockeyprofi Ben Meisner, der die Geschichte seines Beinahe-Selbstmordes publik gemacht hat, dabei beschrieben hat, was ihn davon abgehalten hat und warum er jetzt so froh ist, am Leben zu sein. Und es gibt die sehr empfehlenswerte Doku „Not Alone“ auf Netflix, ebenfalls für ein jugendliches Zielpublikum und zum Thema Suizid.