Wer sich gehen lässt, geht; geht verloren, rutscht von der schiefen Ebene, reißt mit, was sich mitreißen lässt. Das Bild entstammt aus ThomYorkes Kurzvideo „Anima“, das vor wenigen Tagen parallel zu seinem dritten Soloalbum erschien. Der Titel referiert auf Carl Gustav Jung: die Anima als Brücke zum Unterbewussten, ins Traumland. Das Albumcover zeigt einen Trichter aus Wolkenkratzern, der einen Fallenden erwartet. Der Abgrund kündigt sich an, das Album löst ihn verlässlich ein.
Der 50-jährige Sänger der britischen Alternative-Band Radiohead ist seit 2006 ("The Eraser") auch auf Solopfaden unterwegs. Gleichzeitig mit seiner neuen Platte erschien ein gleichnamiges Video auf Netflix, produziert von Paul Thomas Anderson: „Anima“ ist Musikvideo und Kurzfilm, verschränkt Tanz, Musik- und Videokunst zum konsistenten 15-Minüter. Am Beginn stehen der Tunnelblick und Menschen in der U-Bahn. Lethargisch, rhythmisch alternierend schlafend und wach, erinnern sie an ein Interview, das Yorke dem britischen Magazin „Crack“ gab: „Unglaubliche Anfälle von Angst“ und eine Schreibblockade hätten ihn in den vergangenen Jahren begleitet. Das kann in „Anima“ spüren, wer will. An der Produktivität seines Erschaffers lassen sich die Angstzustände nicht ablesen: Im Vorjahr kreierte Yorke etwa für LucaGuadagninos Horrorstreifen „Suspiria“ erstmals einen Soundtrack. In „Anima“ ist der Horror fern, weicht zugunsten der Beklemmung. Ein bisserl Dystopie darf es schon sein.
Die U-Bahn spuckt ihre Gäste aus, „Not The News“ hebt an, alles strömt Richtung Ausgang und nur Thom Yorke bleibt im Drehkreuz hängen. Der Kampf gegen die Maschine, einmal mehr verloren. Doch der Blick einer Frau treibt voran, vertreibt die Verlockung des endgültigen Zurückbleibens. Der Radiohead-Frontman ist über die gesamte Länge im Zentrum des Videos, gewährt Nähe, selbst ein seltenes Lächeln gibt er der Kamera preis. Das Ungewöhnliche ist das Gewohnte, das Vertraute nicht immer das Verständliche.
Die Einfachheit lockt
Die neun Lieder des neuen Albums sind gelagert wie einsame Traumlandschaften. Stücke, die aus dem Minimalismus herauswachsen, sich vom Sphärischen begleiten lassen, sich widersprüchlich winden. Das ist schön wie je und musikalisch einfacher als manchmal. Mit verwirrender Prägnanz offeriert Yorke mit und ohne Radiohead Geschichten mit jeder Menge Synthesizersound, melancholischer Verspieltheit und der Aura der Gebrechlichkeit der Welt. Die Vereinzelung im Kosmos des Hyperkomplexen, dazu Zeilen, die in ihrer Einfachheit verlocken: „I thought we had a deal“ oder „if you could do it all again“.
Insofern löst Yorke auf „Anima“ Vertrautes ein. Highlights des mit vielen schönen Momenten ausgestatteten Albums sind „Last I heard“ – intensiv und sich konsequent dem Höhepunkt verweigernd –, „Dawn Chorus“ oder auch „The Axe“. Widerspruch, der zum Tanzen oder Wegträumen einlädt.