Am Mittwoch brach in der Hamburger Hafen-City zumindest eine Welt zusammen. Eine auf einem Lügengerüst aufgebaute Welt, in der es sich wohl nicht gut aber zumindest preisgekrönt leben ließ. In einem Konferenzraum des „Spiegel“-Magazins wurde der größte deutsche Medienskandale der letzten Jahre öffentlich: Der „Spiegel“-Reporter Claas Relotius veröffentlichte über Jahre prominente Reportagen, die frei erfunden waren. Ein kaum zu überschätzendes Desaster für das Medium, ein Schock für die Branche. Auch „taz“, „Zeit Online“, das „SZ Magazin“ oder die „Weltwoche“ hatten seine Artikel veröffentlicht.

Der „Spiegel“ erklärte am Mittwoch, Relotius habe „mit Vorsatz, methodisch und hoher krimineller Energie getäuscht“ – und sich dafür auch noch feiern lassen: Erst vor wenigen Wochen erhielt der 33-Jährige den Deutschen Reporterpreises 2018. Ein Auszug aus der Preisrede nimmt sich im Rückblick beinahe trotzig an: Seine Reportagen seien von „beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert.“ Bloß: Die angeführten Quellen waren Fantasiegespinste.

„Sie tragen Munitionsgürtel, automatisches Gewehr, schusssichere Weste und ausgedachte Namen. Einer nennt sich Pain, Schmerz, er raucht Zigarre und sagte, er wolle den Teufeln, die auf Amerika zuliefen, in den Arsch treten, genau wie Donald Trump.“ Die Zeilen stammen aus Relotius letzter „Spiegel“-Reportage aus dem Grenzgebiet von Mexiko und USA. Sein Stil ist einnehmend, seine Sprache melodisch. Und seine Inhalte erfunden – zumindest teilweise.

Aufgebrochen hat das Lügengerüst der Co-Autor der Grenz-Reportage: Wochenlang recherchierte Juan Moreno seinem Kollegen hinterdrein, suchte nach Beweisen, berichtete der zuständigen Gesellschaftsredaktion (die ihm lange nicht glaubte) und riskierte damit seine Karriere als Journalist. Auch deswegen rumort es im „Spiegel“ derzeit offenbar gewaltig: Die Frage, wie ausgerechnet im Ressort des künftigen Chefredakteurs Ullrich Fichtner der Betrug über Jahre übersehen werden konnte, „sorgt intern für heftige Kritik“ – namentlich zitiert möchte aber keiner der gefragten Redakteure werden. Doch die Wut unter den Kollegen ist enorm: Zum teilweise gefälschten Interview von Relotius mit Widerstandskämpferin Traute Lafrenz twitterte der Wiener „Spiegel“-Korrespondent Hasnain Kazim: „Da hat man die Chance, eine Person von hist. Bedeutung zu treffen, und dann erfindet man Mist dazu?“

Das Hamburger Medienhaus (Verkaufsauflage 717.000 Exemplare – Tendenz sinkend) reagiert mit einer wohl einmaligen Transparenz-Offensive: Detailliert führt das Magazin an, wie der Skandal entdeckt wurde und wie Relotius in zumindest 14 Artikeln schamlos belog und betrog.

Allerdings: Die Aufarbeitung wird laut Kritikern just von der Gesellschaftsredaktion betrieben – dort wo das journalistische Talent jahrelang mit Stolz verhätschelt wurde.

Und Claas Relotius, den Fichtner als „zurückhaltend, höflich, aufmerksam“ beschreibt? Er hat seinen „Spiegel“-Vertrag gekündigt.

Alles nur geklaut oder frei erfunden