Natürlich war das Timing alles andere als ein Zufall. Eine Recherchegemeinschaft um die Tageszeitung „Der Standard“, die Rechercheplattform „Dossier“ und den Sender Ö 1 hat jüngst einen 44 Jahre alten Justizakt exhumiert, der beschreibt, wie 1974 die Spitzen des Staates zusammenwirkten, um Österreichs Ski-Legende Toni Sailer vom Vorwurf einer Vergewaltigung im polnischen Wintersportort Zakopane loszueisen.
Dass die Story pünktlich zum Zwischenstopp des Skizirkus in Sailers Heimatort Kitzbühel erschien, ist natürlich Kalkül; so ist ihr größtmögliche Aufmerksamkeit garantiert. Tatsächlich hat der Bericht viele verstört: Boulevardpresse und Sportminister etwa, die sofort zur Generalabsolution des dreifachen Olympiasiegers von Cortina 1956 losgaloppierten. Als wäre es undenkbar, dass ein Nationalheiliger auch dunkle Seiten hat.
Verständlich ist es dennoch, dass es viele erbittert, wenn das anno 1974 eingestellte Verfahren nun, fast neun Jahre nach Sailers Tod, wieder aufgerollt wird – schließlich kann Sailer selbst dazu nicht mehr Stellung nehmen. Die Kleine Zeitung hat sich, auch aus diesem Grund, dazu entschieden, den schon Mitte der Siebziger medial verhandelten Fall nicht grell auszuleuchten; wir haben ihn bloß vermeldet. Ignorieren aber lässt er sich nicht – schon gar nicht angesichts der laufenden Debatten um sexuelle Gewalt und Missbrauch auch im Wintersport.
Insofern lässt sich das Unbehagen angesichts des wiederaufgetauchten Dossiers möglicherweise produktiv nutzen: zur Reflexion über mediales Timing, zur Auseinandersetzung mit sexueller Belästigung und Gewalt, auch zur Diskussion darüber, wer an jenem 6. März 1974 das Opfer war: Toni Sailer, der stets darauf beharrte, man habe ihm damals im Hotel eine Falle gestellt, oder die Prostituierte Janina S., deren Verletzungen laut Akt etwa Prellungen, Blutgeschwulste, Bisswunden umfassten.
Damals, das geht aus dem Dossier hervor, haben sich Bundeskanzler Bruno Kreisky, Außenminister Rudolf Kirchschläger sowie hochrangige österreichische Diplomaten dafür verwendet, dass die in Polen gegen Sailer gestellten Vorwürfe nach und nach fallen gelassen wurden.
Man ist geneigt zu glauben, dass Vergleichbares heute undenkbar wäre: Sexuelle Gewalt lässt sich anno 2018 nicht bagatellisieren und vertuschen. Das zumindest illustriert dieser beklemmende Rückblick auf 1974, egal, ob man an Toni Sailers Integrität glaubt oder nicht.
Ute Baumhackl