Über ein Defizit an Aufmerksamkeit kann sich „Der Spiegel“ momentan nicht beklagen. Die simple Rechnung mit dem aktuellen Cover ist im WWW-Debattierklub punktgenau am Freitagabend aufgegangen: Aufregung, Irritation, Empörung. Der Ärger schwappte auch auf die USA über: Mittlerweile halten Demonstranten in New York Plakate des „Spiegel“-Covers jubelnd in die Höhe.
Darauf zu sehen ist eine Karikatur von Donald Trump in der Triumphpose eines „IS“-Kämpfers, der amerikanische Werte brutal vernichtet. In der einen Hand hält er einen Dolch, in der anderen den abgetrennten, blutigen Kopf der Freiheitsstatue. Darunter steht sein Schlachtruf: „America first“. In einer animierten iPad-Version tropfte sogar, besonders geschmacklos, Blut aus dem geköpften Haupt.
Die Illustration des kubanischen Künstlers Edel Rodriguez - er war übrigens auch für ein „Spiegel“-Cover mit Trump als Komet auf Kollisionskurs mit der Erde verantwortlich - hat eine erbitterte Debatte ausgelöst. Weltweit. Das hat schon lange kein Titelbild mehr geschafft. Selbst sonst gar nicht zimperliche Nachrichtenportale wie „BuzzFeed“ zeigten sich plötzlich „ziemlich schockiert“. Detto die nicht unbedingt chronisch subtile „Bild“-Zeitung.
Das „Spiegel“-Cover war der aggressivste Trump-Titel der letzten Wochen - aber nicht der einzige, der die Lady Liberty als Symbol westlicher Demokratie als Opfer der neuen präsidialen US-Politik sieht. Von Titelseiten prangte bereits: Trump, der die Statue anpinkelte, ihr den Mittelfinger zeigte, in den Schritt griff oder ihr - wie in der „New York Daily News“- den Kopf abschlug. „The Economist“ entschied sich für Trump als Aufrührer, der einen Molotowcocktail wirft. Der „New Yorker“ illustrierte die ersten zwei Wochen des neuen US-Präsidenten feinsinniger: Die Fackel der Demokratie ist erloschen, nur noch Rauch steigt auf.
Ist dieser aggressive Ton notwendig? Der „Welt“-Autor Clemens Wergin wirft dem Schock-Cover vor, dass es „nicht etwa den neuen US-Präsidenten, sondern den Journalismus“ beschädige. „Weil es das Vorurteil vieler Bürger bestätigt, dass die Mainstream-Medien nicht unvoreingenommen berichten und dass viele Journalisten lieber ihr eigenes Weltbild propagieren, als neutral Zeugnis über das abzulegen, was ist.“
Der „Spiegel“-Chefredakteur verteidigt seine Entscheidung naturgemäß: „Wir zeigen das, worum es geht. Es geht im Moment ja tatsächlich um die Demokratie, um die Freiheit, es geht um Menschenrechte, es geht um die liberale Demokratie, so wie wir sie wertschätzen.“ Übrigens: So provokativ das Cover anmutet, so hintergründig ist der Artikel dazu - den viele Aufgebrachte wohl nicht gelesen haben. In „Mephistos Plan“ bekommen Leser beängstigende Einblicke in die finstere Gedankenwelt von Trump-Flüsterer Stephen Bannon. Faktenorientiert wird der Weg von Fake News bis zu einem neuen, starken Nationalismus erläutert.
Ist so ein Cover legitim? Medienpsychologe Peter Vitouch sagt: „Ja, als Eye-Catcher durchaus.“ Eine gewisse Verschärfung, plakative Darstellung und Überzeichnung in Form einer Karikatur sei in Bezug auf Trump erlaubt. Denn: „Er agiert in einer Art und Weise, die die Demokratie in erschreckendem Maße angreift.“ Nämlich: kritischen Journalismus, Gewaltentrennung, Menschenrechte. Vitouch sieht für seriösen Journalismus derzeit „eine große Chance und Aufgabe“.
Aber: Angesichts von Trumps Verbalattacken und Fake-News-Strategien erleben US-Medien aktuell einen Aufwärtstrend.
Es scheint, als sehnten sich die Menschen nach glaubhafter Information. Als Trump in der Woche seiner Amtsübernahme den Sender CNN beschimpfte, stiegen dessen Zuschauerzahlen um 94 Prozent. Die „New York Times“ freute sich im letzten Quartal 2016 über 300.000 neue Online-Abos. Trump reagierte gestern mit einer neuen Twitter-Attacke: „Die NYT schreibt über mich totale Fiktion.“ Und er beharrt: „Alle negativen Umfrageergebnisse über mich sind sowieso Fake News.“