Er raucht Zigarren, säuft am Revier Unmengen Asbach Uralt – gerne auch aus der Flasche – und wenn ihm ein Verdächtiger mit grimmigem Blick eine Pistole vor den Bierbauch hält, ist er nicht eingeschüchtert, sondern nur genervt: Kommissar Paul Trimmel (Walter Richter).

Am 29. November 1970 startete um 20.20 Uhr im deutschen Fernsehen mit dem ersten „Tatort“ und ausgerechnet diesem Brachialbeamten eine unfassbare TV-Erfolgsgeschichte. Geahnt hat das nach 90 Minuten niemand, denn eingeschlagen hat „Taxi nach Leipzig“ nicht. Im Gegenteil: „Im Ganzen bietet der Anfang der Serie mehr eine Variante von Bekanntem als etwas Neues“, verriss die FAZ den ersten Krimi der Reihe.

Jahrzehnte später wurde der Fall doch als Meisterwerk geadelt, der typische „Tatort“-Essenzen enthält: politische Brisanz (der Ermittler aus dem Westen schummelte sich via Taxi in die DDR), kammerspielartige Dialoge, Liebe und Eifersucht, einen markanten Ermittler, eine Leiche, ein bisserl Machtmissbrauch und außergewöhnliche Autos.

Seit 46 Jahren wird sonntags im „Tatort“ ermittelt, derzeit in 22 teils unglamourös deprimierenden Städten und Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Und wenn heute der nach deutscher Zählung 1000. Fall – er heißt wie der allererste „Taxi nach Leipzig“ – um 20.15 Uhr mit dem berühmten Fadenkreuz zu Klaus Doldingers psychedelischer Fanfare eingeläutet wird, dann existiert er noch: der Lagerfeuer-Effekt im TV. Hinter dem abgedroschenen Begriff verbirgt sich das biedere Ritual, sich kollektiv vor dem Fernseher einzufinden. Nach 90 Minuten Mörderjagd im Pyjama ist es meistens Gewissheit: Der Täter ist gefasst, das Gute hat über das Böse gesiegt. Gute Nacht!

Eine Obduktion

Warum funktioniert das betuliche und berechenbare Format „Tatort“ in Zeiten von Sendervielfalt und Streamingdiensten wie Netflix und Co. überhaupt noch? „Die Ermittler sind keine Bonds und keine spleenigen Sherlock-Holmes-Typen“, beschrieb die „New York Times“ zum 40er aus der Ferne den „Tatort“. Die Kommissare seien so „durchschnittlich wie ihre Zuschauer, und dieses hohe Identifikationspotenzial erklärt wahrscheinlich auch den Erfolg der Reihe, denn die Deutschen mögen das Durchschnittliche.“

Im Vergleich zur actiongeladenen, glatt geschniegelten und globalisierten, aber austauschbaren Ästhetik von FBI-Formaten wie „Criminal Minds“ oder der soziologischen Brutal-Beackerung Baltimores in „The Wire“ wirken die regionalen, dialektgefärbten „Tatort“-Ermittlungen an der Currybude in Köln, in Ottakringer Beisln oder in der unaufgeregten niedersächsischen Einöde manchmal wie eine putzige Liebeserklärung an die Langsamkeit und an eine nostalgisch verklärte Zeit, in der die Welt noch verlässlich einordenbar schien.


Daran erinnert der „Tatort“ nach wie vor vehement, da können die darin verhandelten Problemzonen wie Schlepperwesen, islamistischer Terror oder künstliche Intelligenz noch so international bedrohlich sein. Das wohldosierte Sonntagabendgruseln wirkt wie eine Beruhigungspille fürs Volk.

"Wir sind die Guten"

Wer die Guten sind, die uns vor dem Bösen bewahren, bleibt während der 90 Krimiminuten unangefochten. Miroslav Nemec, Schauspieler und seit 25 Jahren als „Tatort“-Kommissar Ivo Batic im TV-Einsatz, hat das in einem Interview pointiert formuliert: „Wir sind öffentlich-rechtlich, also sind wir auch die Guten und müssen die Erwartungen erfüllen, dass das Böse gesühnt und gestraft wird und nicht in der Welt bleibt.“

Der Philosoph Alfred Pfabigan geht in seinem Buch „Mord zum Sonntag“ noch weiter: Der „Tatort“ spiegle die Gesellschaft nicht, sondern habe sich „immer mehr in ein inoffizielles Regierungsorgan verwandelt“. Ein Beispiel: Auf Angela Merkels Neujahrsansprache im Jahr 2007 mit dem Aufruf zum Hinschauen im Fall von Kindesmisshandlung folgte nicht zufällig die Folge „Unter uns“, die zum Hinschauen auffordert.

Die neuen Dickköpfe

Unberechenbare „Tatort“-Dickköpfe wie Faber in Dortmund, Rubin in Berlin oder Murot in Wiesbaden gehen seit Kurzem in bester Serienmanier widerborstig in Figurenzeichnung, Erzählweise und Ästhetik gegen verbeamtete TV-Befindlichkeiten vor. Das verstört manche Lagerfeuer-Hocker, belebt den „Tatort“ (und die Quoten) aber ungemein. Auf die nächsten 1000 gelösten Fälle!