Schuldig oder nicht schuldig? "True Crime"-TV-Formate, die diese Frage publikumswirksam stellen, haben Hochjunktur. Die US-Filmemacher Rod Blackhurst und Brian McGinn wollen mit ihrer Doku mit und über Amanda Knox, die ab 30. September auf Netflix abrufbar ist, über diese Frage hinaus. "Der Fall ist entschieden", sagt McGinn. "Das ist das Gute daran, diesen Film 2016 zu veröffentlichen."
Beinahe acht Jahre lang stand die heute 29-jährige Knox im Zentrum eines Justizkrimis, der in punkto weltweiter Medienaufmerksamkeit seinesgleichen sucht. Als ihre Mitbewohnerin, die britische Austauschstudentin Meredith Kercher, im November 2007 im italienischen Perugia brutal ermordet aufgefunden wurde, geriet die US-Studentin gemeinsam mit ihrem damaligen Freund Raffaele Sollecito ins Visier der Ermittler, brachte sich durch eine Falschaussage in Bedrängnis und wurde 2009 des Mordes verurteilt. Bis zum letztinstanzlichen Freispruch 2015 wurde sie von der italienischen Polizei als amoralische Satanistin und von der Boulevardpresse als "Engel mit den Eisaugen" bezeichnet.
"Weltweit waren wir von dieser Geschichte über so lange Zeit gefesselt", sagt der "Amanda Knox"-Regisseur Brian McGinn (31) im Interview mit internationalen Medienvertretern in London. "Tatsächlich hat aber bis jetzt niemand mit jenen Menschen gesprochen, die im Zentrum von alldem stehen und das acht Jahre lang durchlebt haben."
"Sie waren alle sehr ehrlich zu uns"
Gemeinsam mit dem Kameramann und Regisseur Rod Blackhurst (35) ist es McGinn gelungen, sowohl Knox als auch Sollecito und den italienischen Chefermittler Giuliano Mignini für die 90-minütige Doku zu interviewen. Sie erzählen das Erlebte aus ihrer Sicht, ergänzt u.a. durch Wortmeldungen des damaligen "Daily Mail"-Korrespondenten Nick Pisa. "Wir wollten, dass sie alle ihre Version der Wahrheit erzählen, in ihren eigenen Worten abseits der Schlagzeilen, die uns vorgelegt wurden", erläutert Blackhurst die Vorgangsweise, sämtliche Protagonisten gleichwertig zu behandeln. "Sie waren alle sehr direkt, sehr ehrlich zu uns."
Brutal ehrlich scheint vor allem Nick Pisa, der mit seinem Stolz darüber, pikante Details über entartete Sexspielchen - die sich später als falsch herausstellten - als Erster auf Titelseiten gehievt zu haben, nicht hinterm Berg hält. "Die Medien hatten einen derart großen Einfluss darauf, wie wir diesen Fall wahrgenommen haben", kritisiert Blackhurst, und McGinn ergänzt: "Wir befinden uns mittlerweile im Zeitalter der postfaktischen Demokratie, in der Tragödien wie diese mit Entertainment verschmelzen." Während sich die Polizei später an aggressiven Medien abputzte, schiebt Pisa die Schuld an tendenziöser Berichterstattung sensationsgeilen Lesern zu. "Er spricht von diesem Bedürfnis nach Geschichten; von Menschen, die jeden Morgen online gehen, um die neuesten Details zu erfahren", so McGinn. "Das befeuert die journalistische Maschinerie, die diese Berichte und Schlagzeilen aufbläst."
"Eigene Perspektive verschiebt sich"
Im Rahmen der Doku zeichnen die beiden Filmemacher nach, wie Medien und Ermittler manch harmlose Bilder und (teils unüberlegte) Aussagen für Spekulationen missbrauchen. Wiederholt bauen McGinn und Blackhurst die bereits ikonische Aufnahme eines Kusses zwischen Knox und Sollecito nahe des Tatorts ein. "Wir tun das, weil man im Laufe des Films mehr Informationen erhält", meint McGinn mit Verweis auf die zum Zeitpunkt des Mordes noch frische Liebesbeziehung der beiden Jugendlichen. "Es ist interessant, sich diese Bilder mit neuem Wissen mehrfach anzuschauen und zu beobachten, wie sich die eigene Perspektive verschiebt."
Die Faszination hinter Mordfällen umreißt Knox selbst in der Doku, wenn sie den Zusehern eingangs die Frage stellt: "Bin ich eine Psychopathin im Schafspelz - oder bin ich wie ihr?" "Sie spricht damit zwei unserer größten Ängste an: Davor, sich selbst einmal in dieser Position zu befinden, oder davor, dass sie tatsächlich so sein könnte, wie sie beschrieben wird", erläutert Blackhurst. "Wir wollen die Dinge schwarz oder weiß sehen, wissen, wer die Bösen sind, und dass wir nicht zu ihnen gehören; wissen, wer schuldig ist und wer nicht."
"Neue, kontroversielle Story"
Zwar wird der Fall bis heute emotional debattiert. Die Schuldfrage aber ist mit dem zweiten Freispruch wegen grober Ermittlungsfehler und einer medialen Hexenjagd geklärt, einzig rechtskräftig Verurteilter bleibt Rudy Guede. "Das ermöglicht es uns, größere Fragen zu stellen", weiß McGinn, der wie Blackhurst anfangs mit forensischer Neugier an die Geschichte herangegangen war. "Mittlerweile blicken wir anders auf diese Fälle. Weil hinter ihnen reale Menschen stehen, die unter den realen Konsequenzen leiden." Er erhofft sich, dass die Doku auch dem Publikum einen neuen Blickwinkel eröffnet. Anders als etwa bei der Netflix-Dokuserie "Making a Murderer", die den Sehern eine "neue, kontroversielle Story" angetragen hat, sei der Mordfall um Meredith Kercher "weitgehend bekannt und abgeschlossen". "Wir hoffen, dass die Konversation über diese Diskussion hinausgeht, damit wir einen Schritt zurück gehen und das Gesamtbild sehen."