Man kann davon ausgehen, dass dieser Satz bei Anna Wintour für Gänsehaut sorgt: „Ich wollte mich zum beliebtesten Mädel der ganzen Welt machen“ – für die spätere „Vogue“-Chefin Diana Vreeland war dieser Satz die Karosserie für ihren späteren raketenhaften Aufstieg in der Modebranche. „Hohepriesterin der Mode“ nennt man sie bis heute, auch, weil sie das Modemagazin in den 1960er-Jahren dazu gemacht hat, wie es bis heute bezeichnet wird – als Modebibel. Seit 1988 ist Anna Wintour die Chefredakteurin der US-Vogue, aber „Hohepriesterin“ wird sie nicht genannt, eher schon „Eiskönigin“ oder auch „Nuclear Wintour“. Daraus lässt sich gut ableiten: Das mit dem „beliebtesten Mädel der Welt“, das war nie ihr Ding.
Ihre knallharten Umgangsformen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gipfelten 2003 im Buch „Der Teufel trägt Prada“, in dem ihre ehemalige Assistentin Lauren Weisberger mit ihr abrechnete. 2006 wurde der Stoff mit Meryl Streep in der Hauptrolle verfilmt. Seitdem ist Wintours Ruf auch in der Populärkultur einzementiert – als Darth Vader des Modeuniversums. Wobei, zumindest in Sachen Outfit ein schlechter Vergleich: Wintour trägt niemals Schwarz von Kopf bis Fuß. Das soll nicht heißen, dass sie dem Modezirkus keine Form von Uniformiertheit entgegenzusetzen hätte, im Gegenteil: akkurater Bob, dunkle Sonnenbrille (Chanel), Designerkleid und Kurzmantel, fertig ist das modische Wintourquartett.
2018 schrieben Modeauguren schon die Ablöse der gebürtigen Britin herbei – falsch gedacht: Vor vier Jahren, also mit 71 Jahren, kam noch einmal ein ordentlicher Karriereschub: Seit 2020 ist sie für den Inhalt aller „Vogue“-Ausgaben weltweit und für fast alles, was der Condé-Nast-Verlag in den USA herausgibt, verantwortlich.
Mag die globale Marke „Vogue“ am Magazinmarkt wie die meisten Printprodukte in Sachen Leserschaft Einbußen erleiden, so ist man global und länderspezifisch in Sachen Social Media gut aufgestellt. Was der Condé-Nast-Verlag überrissen hat: Anna Wintour ist längst das, was im Influencerbereich die wichtigste Währung ist, sie ist eine Marke. Mit Sympathie hat das bekanntlich gar nichts zu tun und doch kann man gut und gerne hinterfragen, wie sehr diese Kritik an ihrer Außenwirkung auch genderspezifisch ist. Das ist nichts, was die zweifache Mutter und dreifache Großmutter nicht auch selbst weiß: „Manchmal gibt es da eine bestimmte Art von persönlicher Kritik gegen mich, die wahrscheinlich ein Mann in meiner Position nicht abbekommen würde.“
Es besteht kein Zweifel daran, dass Wintour im Laufe ihrer Karriere Trends und Hypes erkannt und aufgegriffen hat, aber auch talentierte Designerinnen und Designer, darunter John Galliano und Marc Jacobs, groß gemacht hat. Mit einer längeren Anlaufzeit hat sie vor ein paar Jahren auch erkannt, dass man eine Kim Kardashian mit Hunderten Millionen Followern auf Instagram auf das Cover der „Vogue“ hieven kann. Aber wie viele Modemagazine, ist auch die „Vogue“ mit großer Verspätung auf den Diversitätszug aufgesprungen – ein Spiegelbild des internationalen Modezirkusses, der zu lange an der weißen Upperclass-Klientel festgehalten hat. Doch mit Edward Enninful, Chefredakteur der britischen „Vogue“ von 2017 bis 2023, steht ein potenzieller Nachfolger bereit, der die britische Ausgabe des Modemagazins in Sachen Diversität ins Heute transferiert hat. Seine Abberufung in den Konzern deuten manche als seine Positionierung in Richtung Pole-Position.
In Sachen Politik ist die Tochter eines britischen Zeitungsherausgebers kompromisslos: Dass Kamala Harris als Präsidentschaftskandidatin am Cover der „Vogue“ war, ist kein Zufall, sondern ein Bekenntnis. Ebenso, wie Melania Trump als Präsidentschaftsgattin nicht wie üblich das Cover zierte. Und Donald Trump bei der berühmten Met-Gala, die sie veranstaltet? Nicht einmal daran denken! In dieser Hinsicht gibt sich Wintour tatsächlich eiskalt. Doch beim Rest darf man berechtigte Zweifel anmelden. Dass sie Humor hat, zeigt sich unter anderem beim „Vogue“-YouTube-Format „73 Questions“, in dem sie vor zehn Jahren das erste Mal befragt wurde. Der wohl beste Beweis ist jedoch, dass sie 2006 bei der Premiere von „Der Teufel trägt Prada“ anwesend war. Anna Wintour trug, wie könnte es anders sein, natürlich „Prada“.