Wer die Wahrheit fürchtet, dem fällt das Lügen leicht. Catherine Ravenscroft (Cate Blanchett) lebt die perfekt konstruierte Lüge: glücklich verheiratet, ein Eigenheim mitten in London, pompös und prachtvoll wie aus einem Märchen, karrieretechnisch auf der Höhe ihres Schaffens. Alles scheint tadellos. Die Arbeit als Investigativjournalistin, die in ihren Dokus so manchen Skandal auffliegen ließ, hat der Mittfünfzigerin Preise und Prestige beschert. Paradoxerweise also in einem Feld, wo die Wahrheitssuche oben auf der Agenda steht. Dass die Tausendsassa selbst dunkle Geheimnisse hütet, sollte die Außenwelt nie erfahren.
Als ein unveröffentlichter Roman, betitelt mit „The Perfect Stranger“, die Runde macht, fühlt sich die Dokumentarfilmerin auf frischer Tat ertappt. Mit Sorgfalt wird darin ein fataler Vorfall aus ihrer Vergangenheit aufgerollt. Im Sommerurlaub lernte die damals junge Mutter (in Rückblenden: Leila George) den 19-jährigen Jonathan (Louis Partridge) kennen. Ein Flirt vor malerischer Kulisse, der zur Affäre wurde. Sex, Leidenschaft, Herzschmerz. Für ihn währte das Glück jedoch nicht lange: zu Sommerende wurde er tot aufgefunden, die Umstände sind bis heute ungeklärt. Jonathans Vater Stephen (Kevin Kline), Urheber des Manuskripts, macht Catherine für den Tod verantwortlich und sinnt auf Rache.
In „Disclaimer“, der Serienadaption des gleichnamigen Romans von Renée Knight, ist nichts, wie es scheint. Figuren, die zu Anfang Unbehagen bereiten, werden zu Sympathieträgern und umgekehrt. Das komplexe Konstrukt aus Lügen, Lieben, Sex und Intrigen wird aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Vergangenheit und Gegenwart gehen nahtlos ineinander über, Vorurteile werden demontiert, Rätsel allmählich gelüftet. Irreführung und Hochspannung, die vor den Fernseher fesselt, bis das allerletzte Puzzleteil gelegt ist. All das ist kaum verwunderlich, wenn man weiß, wer im Hintergrund die Fäden zieht: Alfonso Cuarón, ein Großmeister des zeitgenössischen Films („Children of Men“, „Roma“), hat für die Miniserie das Fach gewechselt und beweist, dass großes, bildgewaltiges Kino auch in serieller Erzählform möglich ist. Nicht ohne Grund hat der Mehrteiler seine Weltpremiere bei den Filmfestspielen von Venedig feiern dürfen, der mexikanische Zweifach-Oscar-Preisträger sieht die Serie als langen Film.
Und tatsächlich ist „Disclaimer“ ein Erlebnis für Cineastinnen und Cineasten: Kamerafahrten, für die Cuarón wieder einmal dem geschulten Auge von Oscarpreisträger Emmanuel Lubezki vertraut, lassen einen staunen. Wenn eine Figur ins Meer stapft, erschlägt einen der Wellengang förmlich; so immersiv ist die Bild- und Klangkulisse. Die Musik stammt aus der Feder von Finneas O‘Connell, dem Bruder und kreativen Kollaborateur von Billie Eilish. Hinzu kommt die formidable Besetzung: Cate Blanchett und Kevin Kline liefern sich ein furioses Duell, irgendwo zwischen eiskalter Berechnung und großer Verletzlichkeit. Als unscheinbarer Gatte überrascht Komödiant Sacha Baron Cohen, frei von Borat-Anzug und komischen Akzenten, mit nuanciertem Spiel. Cuaróns Serienausflug erweist sich als großes Geschenk für Apple TV+. Eine aufregende Mischung aus Familiendrama und Mysterythriller; technisch perfekt, reich an Wendungen, großartig gespielt. „Disclaimer“ – auf gut Deutsch: Warnhinweis – ist keiner nötig.
Christian Pogatetz