Im zweiten Jahr nach der Veröffentlichung des intelligenten Chatbots ChatGPT „wird die disruptive Kraft der Künstlichen Intelligenz den Informationsraum erobern“, ist Nic Newman sicher. Der Studienleiter des angesehenen Reuters Instituts an der Universität Oxford bezieht sich auf eine Umfrage unter 300 Führungskräften von Medienhäusern in 50 Ländern der Welt, mit der sein Institut einmal im Jahr die Branche befragt. Im jüngsten Bericht hat Newman die globalen Trends veröffentlicht.
Künstliche Intelligenz. Vor dem Hintergrund von nationalen Wahlen in mehr als 40 Staaten 2024 und Kriegen unter anderem in Europa und im Nahen Osten, werde der Fokus noch stärker auf der Verlässlichkeit von Informationen liegen als bisher – auch herausgefordert durch die Manipulationsmöglichkeiten einer künstlichen Intelligenz. Eine Kernaufgabe wird nicht nur für Medienbranche darin bestehen, „das Beste der KI zu nutzen und gleichzeitig ihre Risiken zu managen“, erklärt Newman. In den Redaktionen ist KI aktuell noch nicht in den Strukturen verankert. Nur 16 Prozent haben KI-Regeln für den Redaktionsalltag, ebenso wenige haben einen KI-Beauftragten, ergab die Umfrage.
Zuversicht. Der Optimismus ist unter den befragten Führungskräften nicht ausgeprägt. Nicht einmal die Hälfte (47 Prozent) sagt, sie würde zuversichtlich in das heurige Jahr blicken. Als Gründe werden die global wirksamen Tendenzen der steigenden Kosten, geringere Werbeeinnahmen und ein verlangsamtes Abo-Wachstum angegeben.
Urheberrecht. Die „New York Times“ hat angekündigt, die Unternehmen Open-AI und Microsoft zu klagen, weil diese unerlaubterweise „NYT“-Inhalte für ChatGPT verwendet haben sollen. Der Rechtsstreit könnte richtungsweisend für das Verhältnis von Medienhäusern und KI-Anbietern werden. Einige Unternehmen schlossen bereits Kooperationen mit Technologieanbietern ab. Rund 50 Prozent der Befragten geht allerdings davon aus, dass diese Deals nur einen sehr überschaubaren Beitrag zum Etat beisteuern werden.
Soziale Netzwerke. Die Bedeutung von sozialen Plattformen für Medienhäuser ist in Bewegung. Die Reuters-Studie zitiert den Datenanalyse-Anbieter Chartbeat: Demnach reduzierte Facebook im Laufe des Jahres 2023 den Anteil an Nachrichten-Beiträgen um 48 Prozent, bei Twitter waren es 27 Prozent: „Die Verleger haben diese Plattformen weitestgehend aufgegeben“, erklärt Newman in seiner Analyse. Als Konsequenz gaben 77 Prozent der Befragten an, sie wollen 2024 den Fokus auf die eigene Homepage setzen. Alternative bieten andere Plattformen und Dienste: Insbesondere WhatsApp dürfte, laut dem Reuters-Report, eine deutlich wichtigere Rolle im Nachrichtenbereich spielen. 61 Prozent der Medien wollen hier expandieren.
Video und Audio. Während die Führungskräfte mit einer gleichbleibenden Zahl an Textartikeln ausgehen, plant der Großteil eine Ausweitung anderer Angebote wie Video und Newsletter.
Krise. Finanziell bleibt die Branche unter Druck. Allein in den USA fielen im Vorjahr rund 20.000 Jobs in der Medienbranche weg, wobei davon nicht nur Nachrichtenmedien betroffen waren. Laut einer Analyse der Northwestern University verschwanden in den USA wöchentlich durchschnittlich zwei bis drei lokale Zeitungen.
Nachrichtenvermeidung. Das Thema Nachrichtenvermeidung bleibt aktuell und wird von den ins Wohnzimmer und Smartphone übersetzen Krisen auf der Welt befeuert. Einen anderen Grund führt Newman an: „Unsere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Nachrichtenkonsumenten oft das Gefühl haben, von der großen Auswahl überwältigt zu sein, die sie bereits haben.“ Das bringt Medien in ein Dilemma: Indem sie immer mehr Produkte in unterschiedlichen Formaten anbieten, drohen sie das Publikum zu überfordern, führt Newman aus.