Weihnachten Anfang der sechziger Jahre. Vor dem Wohnzimmer hängt ein rotes Tuch, geschmückt mit Engelsköpfen aus Stanniol. Uns Kindern ist der Zutritt verboten. Gegen Abend ruft uns die kleine Glocke. Im Zimmer steht ein Baum, auf dem Wipfel steckt ein goldener Engel mit ausgebreiteten Armen und Wachskopf. Strohsterne, Kugeln und Kerzen schmücken die Zweige, darunter liegen Pakete.
Vom Christkind wollten die Eltern nicht reden. Sie fanden, man sollte uns nicht täuschen. Vielleicht wollten sie nur vor Enttäuschung schützen. Entmythologisierung im Kinderzimmer. Sie erklärten uns, warum an dem Tag Geschenke unter einem leuchtenden Baum liegen und sagten dazu, von wem sie waren. Jesus hatte Geburtstag und wir profitierten davon. Der Vorhang hatte größere Geheimnisse versprochen. Unter Gleichaltrigen verschaffte uns die sachliche Auskunft immerhin einen Vorsprung. Wir wussten mehr als die anderen Kinder und fühlten uns überlegen.
Es war die Zeit des großen Aufräumens. Der Vatikan bereitete ein Konzil vor, das die alten Lehren und Riten der Moderne anpassen sollte. Die Fenster öffnen, nannte der Papst das, also lüften. Zur Eröffnung des Konzils ließ er sich zwar noch auf dem Thronsessel durch den Petersdom tragen, die schwere Tiara aber trug er nicht mehr. Als Zeichen für das Ende einer Ära gab sie sein Nachfolger weg.
Die Aufbruchsstimmung war selbst für Kinder zu spüren. Die steifen Formen in der Messe, der gebeugte Rücken des Priesters, das Murmeln unverständlicher Sätze in einer toten Sprache, alles war plötzlich verschwunden. Wir waren erwachsen und durften die Inszenierung sehen, sogar mitmachen. Das Geheimnis schien gelüftet.
Die Weihnachtserinnerung spiegelt im Kleinen, was im Großen passierte. Dem Gefühl der Befreiung folgte Ernüchterung. Die Gottesdienste leerten sich langsam, aber stetig. Die Ahnung, dass in dieser Stunde Weltbewegendes passiert, das über den Verstand geht und das Leben verändern kann, schien für viele an Überzeugungskraft verloren zu haben. Es blieben erbauliche Worte, Moral und der Kaffee danach. Zu wenig, um gegen die Trägheit eine Gewohnheit durchzuhalten, die Generationen geformt hat. Die sinnliche Fleischweihe zieht noch Massen an, zu Weihnachten sind die Kirchen voll. Das Fest der Familie hält stand und erinnert daran, was Volkskirche war. Für den Rest des Jahres sind Kirchgänger wieder, was sie am Anfang ihrer Geschichte waren: Exoten.
Noch strahlen die Kirchen frisch renoviert, manche ändern ihre Bestimmung. Hier zieht eine Mensa ins säkularisierte Gotteshaus, dort eine Bar. In Museen werden bald längere Erläuterungen religiöse Kunst erklären müssen, weil den Besuchern der Deutungsschlüssel fehlt. Wie jene Russin, die mich kurz nach dem Ende der Sowjetunion in der Eremitage nach der Bedeutung der dort ausgestellten biblischen Szenen gefragt hat. „Weißt du, was du sahst?“, fragt Gurnemanz den ahnungslosen Parsifal nach dem Gottesdienst. Der schüttelt den Kopf und wird aus der Gralsburg gejagt. Er braucht eine lange Wagneroper, um zurückzufinden.
Thomas Götz