Es ist der 17. September 2021, kurz nach 13 Uhr, Idylle pur. Es ist keine sechs Monate her, als dieses Foto von einer der drei Wildkameras von Anna Jermolaewa aufgenommen wurde. Standort: Tschernobyl. Einst der Inbegriff für die atomare Katastrophe schlechthin, hat sich der ukrainische Landstrich längst zum Eldorado für die lokale Fauna entwickelt. Keine zwei Wochen ist es jetzt her, dass das Paradies neuerlich zur Hölle geworden ist. Mehr noch: "Aus dem Paradies wurde ein politischer Hotspot für die Welt", ist Anna Jermolaewa der Schock über den Krieg in der Ukraine deutlich anzumerken. Von einem Tag auf den anderen hat sich ihr Langzeitprojekt "Chernobyl Safari" um 360 Grad gedreht. Zum ersten Mal zeigte sie Bilder aus der Sperrzone 2015 auf der Biennale in Kiew. Nun sind die neuesten Bilder – das letzte stammt von Ende Jänner –, im Wiener MAK zu sehen. Diese Bilder, Trophäen einer Safari im Paradies, sind die letzten ihrer Art.
Mittlerweile ist Tschernobyl ein russischer Militärstützpunkt und niemand weiß so genau, was dort vor sich geht. Zwar sind die Kameras noch im Einsatz, aber statt der Hirsche, Wölfe und Przewalski-Wildpferde dürfte nun militärisches Gerät vor die Linsen kommen. Die von Jermolaewa abgebildete Idylle muss sich also in den schützenden Raum des Museums zurückziehen. Es bleibt eine Idylle, die nur von der Künstlerin selbst gebrochen wird: Zeichnungen von jenen Mythen, die man sich vor Ort nach dem Schrecken der Katastrophe erzählte – von Kühen mit doppelten Köpfen etwa.