Süße Hawaiisounds und giftige Lyrics von der Band Hirsch Fisch. Und eine Rede, die Intendantin Ekaterina Degot am Donnerstag zu Eröffnung des steirischen herbst gleich doppelt hielt: live vor dem Grazer Orpheum, gleichzeitig in einem vorproduzierten Video, gestreamt in 100 Geschäften der Grazer Innenstadt.
Passend für ein gutteils ins Digitale verlegte Festival ging es dabei um Inklusion und Exklusivität. Um Kunst, die auch angesichts einer langen Tradition avantgardistischer Exklusivitätsansprüche behauptet, für alle offen zu sein. Sowie um eine Pandemie, die nun sogar dem Normbürger eine Ahnung von der Ausgrenzung gibt, die Diskriminierte und Migranten erleben. „Es ist der totale Ausschluss von allem ,Anderen‘ in Ihrem Leben.“
Dabei bahne sich angesichts zersplitterter Gesellschaften, so Degot, „ein Gewitter an, wir spüren es in der Luft: Extreme Ausgrenzung trifft auf extremen Wunsch nach Inklusivität“. Gerade in Österreich mit seiner „sanften Ausgrenzungsgewalt“ komme der Kunst also eine besondere Vermittlerrolle zu, „weil sie uns mit all den Spaltungen, die sich mit sich bringt, und manchmal auch dank ihnen, auf die Dimension dessen hinweist, was nicht da ist. In der Kunst geht es immer um die bessere Welt.“
Welt bzw. Kunst werden in diesem herbst großteils im Netz zu erleben sein, oder via „Paranoia TV“-App. Zum Auftakt lässt sich bei so genannten herbst-„Interventionen“ in Graz aber auch analog Station machen. In den Spar-Supermärkten am Hauptbahnhof und unter dem Hauptplatz hört man in Lawrence Abu Hamdans Installation „A Convention of Tiny Movements“ die Erdäpfelchipspackungen im Regal Ominöses miteinander flüstern.
Im Stadtpark gegenüber dem Künstlerhaus murmeln zwei flackernde Straßenlaternen einander fiktive Ortsnamen zu: In einer Zeit physischer Reisebeschränkungen holt Vadim Fishkins Installation „Dictionary of Imaginary Places“ Fantasie- und Traumwelten in die Stadt.
Dringend empfohlen: Akinbode Akinbyis „Photoautomat“ am Eisernen Tor, der statt der erwartbaren vier Porträtbilder nur eines auswirft – aber dieses dafür mit Bildern urbaner Szenen aus aller Welt kombiniert. „Die Idee ist, dass man bei Betrachtung der Bilder zu einem anderen Verständnis unserer Zeit gelangt“, so Akinbyi, schließlich erzähle der Körper in diesem Apparat zwischen Beichtstuhl und Biometrie ebenso seine eigene Geschichte wie eine Landschaft in Lagos oder Berlin. Das Automatenbild als quasispirituelle Form des Storytelling: sehr einleuchtend, und das für nur einen Euro – oder ein Token aus der Festivalzentrale.
Diese wiederum, im ehemaligen Schuhhaus Spitz in der Grazer Herrengasse gelegen, ahmt die schmucklose Ästhetik eines Senderbüros nach. Es gibt ein echtes Café und simulierte Studios, Schnitt-, Vorführ- und Panikräume. Sowie natürlich Kunst, darunter Igor Samolets Installation „Cuddle Porn“: ein flauschiges Spielzimmer aus stark vergrößerten Aufnahmen von Handy-Streams, die die Lebenswelt eines jungen Moskauers zwischen politischem Protest und alternativen Fakten, Party, Freundschaft und Sex wiedergeben: Abbild einer emotionalen und globalen Vernetzung, die alles und nichts bedingen kann.
Im Kellergeschoss läuft auf einer großen Leinwand das auch auf der App gestreamte Programm, im Erdgeschoss schließlich gibt ein lernfähiger Sigmund-Freud-Bot auf den Zuruf „Hey, Sigi!“ Auskunft zu drängenden Problemen. Und antwortet etwa auf die Frage „Wird alles wieder besser?“ mit dem Satz „Ich glaube, die Vorstellungskraft wird besser unterdrückt als alles andere.“ Wer soll da schon widersprechen.
Ute Baumhackl