Es gibt sie also noch, die Gstätten im Grazer Stadtgebiet. Die Adresse Herrgottwiesgasse 157 ist ein Beweisstück dafür: struppiges Gras, darin ein krummes altes Fußballtor. Nichts, an dem sich der Blick festhalten mag.
Ein Gedankengebäude steht hier allerdings schon. Die Brache soll der Standort des Club Hybrid werden, eines Vorzeigeprojekts im Kulturjahr 2020. Dessen Programm ist freilich seit März auf Eis gelegt – wer die 2020-Website besucht, besichtigt derzeit also auch eine Brache: Grelle „Abgesagt“-Balken prangen über jedem einzelnen Termineintrag. Tatsächlich ist ein Großteil des Kulturjahres wegen Corona großräumig verschoben; allein im zweiten Quartal 2020 fallen dem Virus mehr als 630 Veranstaltungen zum Opfer. Man suche zurzeit „alternative Möglichkeiten zur Projektdurchführung, neue Veranstaltungstermine und Projektzeiträume“, teilt das Organisationsteam mit.
Ganz ohne offizielle Anleitung haben sich indes die zentralen Protagonisten dieses Kulturjahres zusammengefunden: Allesamt befassen sie sich in ihren Projekten mit urbanen Zukunftsvorstellungen, klopfen Utopien auf ihre Tragfähigkeit ab, prüfen Möglichkeiten fruchtbaren Zusammenwirkens von Stadtentwicklern und -bewohnern in Sachen Urbanität.
Der "Club Hybrid" von Heidi Pretterhofer und Michael Rieper etwa, der auf stadteigenem Grund in der Herrgottwiesgasse entstehen wird, ist als „Demonstrativbau“ konzipiert, der als Wohn-, Denk- und Arbeitsraum dienen soll. Erst als temporäres Testexemplar im Kulturjahr-Kontext – voraussichtlich im Mai und Juni 2021. Danach wollen Pretterhofer und Rieper den experimentellen Ereignisraum an interessierte Projektentwickler weiterreichen. Als Modellbau innovativer Urbanität und Gegenentwurf zur Segmentierung bestehender Lebensverhältnisse. Als Versuchsanordnung gerade vor dem Hintergrund des virusbedingten Lockdowns, in dessen Zug sich die Verschmelzung von Lebens- und Arbeitswelten oft als mäßig utopietauglich erwies, durchaus spannungsreich. Am 25. Juni erfolgt eine erste Begehung des Geländes.
Etliche weitere Urbanitätsprojekte des Kulturjahres sind verlagert: Das Projekt „Active Urban Citizenship“ des Instituts für Erziehungswissenschaften an der Grazer Uni wird statt im Frühjahr erst ab September gemeinsam mit Bewohnerinnen des Bezirks Lend utopische Visionen und Umsetzungsstrategien für den Stadtteil entwickeln, das Projekt „Normal“, bei dem Barbara Holub und Paul Rajakovics in den vier Grazer Randbezirken Andritz, Waltendorf, Wetzelsdorf und Liebenau partizipativ nach Bezirksidentität und -brennpunkten forschen, wird im Jänner 2021 erste Ergebnisse liefern.
Radikal gegen ihre Gewohnheiten agiert die Fotokunst-Institution Camera Austria in ihrer Community-Outreach-Intervention „Die Stadt und das gute Leben“: Das Haus am Südtirolerplatz wird der Stadtbevölkerung übergeben, zwecks Untersuchung der städtischen Psychogeografie verfügt sich das Team um Reinhard Braun nach Eggenberg – Projektstart ist allerdings im Dezember statt im Juni. Ana Jeinic generiert mit ihrem Beteiligungsprojekt „Grazotopia“ systemische Utopien einer postkapitalistischen Zukunftsstadt und fachspezifische „Wissenspakete“ zu Themen wie Wohnen, Bodenpolitik, Energie. An die Gruppe angedockt hat noch das Forum Stadtpark, das seine Jahreskonferenz (9. bis 11. Oktober) dem Thema Utopie widmen wird.
Gemeinsam ist allen genannten Projekten, dass die Arbeit an der Zukunft der Stadt weitergeht – aber auch die Unsicherheit, wie sich die Verschiebungen auf die politische Relevanz der schließlich auf echte Umsetzbarkeit angelegten Projekte dann jenseits des Kulturjahres auswirken. Auf Nachfrage beschwichtigt der Grazer Kulturstadtrat Günter Riegler: Die künstlerische Arbeit an Graz 2020 tatsächlich in städtische Veränderung zu übersetzen, sei ihm ein persönliches Anliegen: „Ich sehe es als meinen Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Erkenntnisse des Kulturjahrs in Bau- und Stadtplanung umgesetzt werden.“ Vielleicht ein Minimalvorteil der Verlagerung von 2020 nach 2021: Er hat mehr Zeit dazu.
Ute Baumhackl