Man hat das Gefühl, er sieht seinen Weg klar vor sich: ein Mann, ein Halbakt. Eine Selbstbefragung, deren Stil für die damalige Zeit ungewöhnlich ist. Das Gesicht scharf, sukzessiv verschwimmen Arme und Hände. Wir schreiben das Jahr 1902, in Wien frönt man allerorts dem Jugendstil. Nur einer nicht: Der knapp 20-jährige Richard Gerstl, Sohn aus gutbürgerlichem Haus, zeigt mit seinem Halbakt recht klar, dass er sich erstens dem konservativen Kunstverständnis seines Akademielehrers niemals unterwerfen und sich zweitens keinem der diversen Malerzirkel anpassen wird.

Er ist ein Hochbegabter, der aneckt. Dafür saugt er auf und entwickelt weiter, was er unter anderem in Ausstellungen sieht: Die Impressionisten- Schau 1903 in der Secession etwa oder Edvard Munch und Vincent van Gogh etwa. Ihre Spuren sind in Gerstl Werk sichtbar. „Das Aneignen von Vorbildern, was ihn immer wieder auch zur Revision seines Umgangs mit Farbe und Form zwang, sowie das Konterkarieren stilistischer Anregungen schienen seinen ästhetischen Weg zu bestimmen“, meint Hans-Peter Wipplinger, Direktor des Leopold-Museums und neben Diethard Leopold Kurator der Ausstellung. Die nicht ohne Grund mit einem Zusatz versehen ist: „Richard Gerstl / Inspiration – Vermächtnis“. Denn der erste Expressionist Österreichs, wie er gern genannt wird, hat auch viele Jahrzehnte nach seinem Tod namhafte Künstler inspiriert und beschäftigt, darunter Günter Brus, Martha Jungwirth oder auch Georg Baselitz.

Vorbilder und Nachfolger


Folgerichtig sind die 50 Werke von Gerstl nicht chronologisch gegliedert, sondern in ausgewählte Bilder seiner Vorbilder und Nachfolger eingebettet. Das zeigt umso eindringlicher, welche Entwicklung der junge Maler in seiner nur sechsjährigen Schaffensperiode durchgemacht hat. Eindringlich zeigt sich das im Vergleich des Halbaktes mit „Gruppenbild mit Schönberg“ (rechts oben) – nur wenige Jahre liegen dazwischen und Gerstl hat sich fast gänzlich von der gegenständlichen Malerei verabschiedet – und nicht nur davon.
1906 lernt er den Komponisten Arnold Schönberg kennen. In ihm und seinem Kreis findet der rastlose Gerstl einen sicheren Hafen. Gleichzeitig sollte das sein Untergang sein. Nach einer Liaison mit Schönbergs Frau Mathilde wird der Maler zur Persona non grata – die Liebe gefunden und alles verloren. Danach wird Gerstl nur noch wenige Monate leben. Sein Selbstporträt aus dieser Zeit, mit stark pointillistischen Anleihen, mag ein gar nicht stummer Zeuge dieser Zeit zu sein: Sein Lachen erscheint gekünstelt, beinahe entrückt. Der Blick überhitzt. Am 8. November 1908 begeht der Maler Selbstmord. Er ist 25 Jahre alt.
Seine Werke lagern danach 23 Jahre ungeöffnet in einer Wiener Spedition, bevor sie Gerstls Bruder, dem die Depotkosten schön langsam lästig werden, dem Galeristen Otto Kallir zeigt. Der Rest ist Kunstgeschichte.