Bereits die erste Biennale-Eröffnung im Jahr 1895 endete mit einem Eklat, weil sich Königin Margherita von einem Gemälde mit nackten Damen abgestoßen fühlte. Für einen Skandal hat es diesmal noch nicht gereicht, aber immerhin für eine Erregung der regierenden Salvini-Partei. Der Schweizer Künstler Christoph Büchel hatte es gewagt, das Wrack eines Flüchtlingsschiffs nach Venedig zu bringen. Auf dem alten Werftgelände des Arsenale erinnert der Fischkutter vor fröhlich palavernden Cappuccino-Trinkern an das Unglück von rund 700 Menschen, die im April 2015 nach dem Zusammenstoß mit einem portugiesischen Frachter ihr Leben lassen mussten. Unweit davon ragen Riesenarme, ein Werk des Bildhauers Lorenzo Quinn, aus dem Wasser der Lagune. Lebenslust und Trauer, Spektakel und moralische Fingerzeige, Nationalismen und internationale Verbundenheit, schlechtes Gewissen und kindliches Staunen sind auch diesmal unverzichtbare Bestandteile des weltweit größten Jahrmarkts für Gegenwartskunst, dessen 58. Ausgabe Chefkurator Ralph Rugoff unter das Motto „May you live in interesting times“ gestellt hat.

Interessante Zeiten

Dass es ein chinesischer Fluch sei, interessante Zeiten an den Hals gewünscht zu bekommen, ist zwar eine nette Erfindung, tut aber seiner Beliebtheit bei Krisenrhetorikern keinen Abbruch. „Ungewisse Artefakte“ wie dieser „gefälschte Fluch“ sind für Rugoff jedenfalls Ausgangspunkt, um neue Wege abseits der alternativen Fakten zu erkunden. Zwar könne Kunst die Welt nicht retten, aber vielleicht eine Anleitung geben, wie man mit Anstand und alternativen Sichtweisen die „interessanten Zeiten“ überlebt.

79 künstlerische Positionen

Zu diesem Zweck hat der gebürtige New Yorker im Arsenale und in den Giardini 79 künstlerische Positionen versammelt. Das sind zwar nur halb so viele wie noch vor vier Jahren, aber immer noch genug, um die zentralen Schauplätze beengt erscheinen zu lassen. Unter den großen Namen findet sich ein Jimmie Durham, der heute den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk erhält, eine Nicole Eisenman, Rosemarie Trockel oder die Inderin Shilpa Gupta. Und nicht alle können halten, was ihr glanzvoller Ruf verspricht. Dennoch gibt es zahlreiche Stationen, vor denen sich längeres Verweilen lohnt – zum Beispiel vor den Videos von Ad Atkins, den Aluminiumplastiken von Liu Wei, einer Videocollage von Christian Marclay aus 48 Kriegsfilmen, einer halbierten Ducati von Alexandra Bircken, einem malenden Roboter von Sun Yuan und Peng Yu oder den Selbstporträts der beiden Fotografinnen Zanele Muhali und Mari Katayama. Auch ein Mars-Diarama (González-Foerster/Bittle), Gemüse- und Fleischstände aus Keramik (Zhanna Kadyrova) oder die Originalmauer einer mexikanischen Drogenschule (Teresa Margolles) sind Teil der Biennale.

Hauptentscheidend für deren Attraktivität sind einmal mehr die Länderpavillons, von denen Österreich mit Renate Bertlmann vertreten ist (wir berichteten). Es ist nicht die einzige feministische Position in den Giardini, wie die Pavillons der Schweiz, Englands (Phyllida Barlow) oder Spaniens vor Augen führen. Zu den eher unkonventionellen Beiträgen zählen ein Schrottflugzeug im polnischen Pavillon, eine Spitalsambulanz bei den Israelis oder ein mit Hollywoodmusik und Science-Fiction ausstaffierter Pavillon aus dem alten Ägypten.
Besonders beeindruckend: hochästhetische Fotoporträts von 23 Fantasiemaschinen des Ungarn Támas Waliczky. Enttäuschend: eine Art Abschiebegefängnis im deutschen Pavillon, der beim letzten Mal den „Goldenen Löwen“ davontrug.
Insgesamt sind heuer 90 Nationen mit dabei, erstmals auch Ghana, Madagaskar, Malaysia, Pakistan und die Dominikanische Republik. Ihre Präsentationen sind über die ganze Stadt verstreut, ebenso wie die 21 „Eventi collaterali“, darunter eine große Georg-Baselitz-Schau in der Akademie.
Bereits bei der „Preview“ gab es bei einzelnen Pavillons Wartezeiten von einer Stunde und mehr. Den wachsenden Zustrom zum größten Kunstzirkus der Welt wird dies aber kaum bremsen können. Der Rekord von zuletzt 615.000 Besuchern dürfte in interessanten Zeiten wie diesen nicht zu halten sein.