Ein griechischer Tempel aus Büchern gebaut, die alle einmal irgendwo in der Welt verboten waren: Das ist eines der meist erwarteten Kunstobjekte auf der documenta 14 in Kassel. Die argentinische Künstlerin Marta Minujin wird ihren "Parthenon der verbotenen Bücher" zum Auftakt der Ausstellung am 10. Juni in der nordhessischen Stadt einweihen.
Mit diesem Beitrag will die 74-Jährige das "Schwanken des Denkens in der Welt" darstellen, wie sie der Deutschen Presse-Agentur sagt. Der Tempel nach dem antiken Vorbild auf der Akropolis in Athen wird dann allerdings nicht fertig sein. Besucher können "mitbauen" und einst verbotene Bücher mitbringen, die wetterfest verschweißt per Kran an das Gerüst gehängt werden. Ende Mai fehlten noch acht bis neun Säulen, die komplett mit Büchern verkleidet werden müssen. Private Spender und Verlage haben bisher 42.000 Werke zur Verfügung gestellt. 10.000 weitere sind laut Organisatoren mindestens nötig. Zum Ende der documenta sollen die gespendeten Werke abgehängt und an Besucher verteilt werden.
Der Büchertempel sieht von weitem aus wie aus bunten Mosaiksteinchen gearbeitet. Ein erstes Exemplar gab es bereits 1983 in Buenos Aires kurz nach dem Ende der dortigen Militärdiktatur und dem Beginn der Demokratie. Damals allerdings bestand seine Verkleidung nur aus Büchern, die während der Militärherrschaft verboten waren. Diesmal umfasst er Werke aus der ganzen Welt - und das in genau den Ausmaßen, die sein berühmter "echter" Namensvetter aufweist: 70 Meter lang, 30 Meter breit und 20 Meter hoch.
"Europa befindet sich derzeit in einem schrecklichen Stadium der Selbstzerstörung, weil man sich untereinander nicht versteht", erklärt Minujin die Idee hinter dem Werk. "Dieser Parthenon des Friedens zeigt alle Verbote, die es in der Welt der Schriftsteller und Bücher gab - und wie die Politiker entscheiden, was die anderen lesen dürfen."
Unter den Büchern befindet sich etwa Lewis Carrolls "Alice im Wunderland". In China war es zu Maos Zeiten verboten, weil die Tiere an der Seite der Menschen intelligent erschienen und dies nicht sein durfte, wie Minujin erzählt. Vor allem nachts werde es spektakulär sein, ihren Tempel anzuschauen, meint sie: "Die Säulen haben Innenleuchten, und die Bücher werden dann aussehen wie Steinchen".
Schon als junge Künstlerin überraschte sie mit ihren Werken, Performances und Happenings. Popart-Künstler Andy Warhol gehörte zu ihren Freunden, dennoch war ihrem Schaffen die große Anerkennung seitens der Kritik nicht vergönnt.
Die Einladung nach Kassel kam auch deshalb einer großen Genugtuung gleich: "Dass sie mich anriefen und einluden, ist das Beste, was mir jemals im Leben passiert ist", freut sich Minujin. "Sie sagten, sie wollten eine gestandene Kunstpionierin, die in ihrem Land nicht anerkannt war und international auch nicht so, wie es angemessen gewesen wäre. (...) Jetzt wird mein Werk noch stärker gewürdigt."
Dabei bewundert Minujin gerade die documenta seit jeher, auch die Kuratoren Adam Szymczyk und Pierre Bal Blanc seien fabelhaft, sagt sie. "Abgesehen davon ist die ganze documenta fantastisch, weil es keine Galerie im Hintergrund gibt, nichts wird verkauft", schwärmt Minujin. "Das ist das Tolle an der documenta, dass sie frei ist, ohne wirtschaftliche Interessen. Das ist sogar besser als die Biennale in Venedig, weil dort die Länder die Werke einschicken."
Im April hatte Minujin bereits die internationale Kunstwelt auf sich aufmerksam gemacht - mit einer Performance zu den griechischen Schulden auf der documenta in Athen, die seit 8. April läuft. Damals überreichte sie einem Double von Bundeskanzlerin Angela Merkel Oliven als symbolischen Akt der Rückzahlung. Auch warf die Argentinierin schon einmal Schmuck aus einem Hubschrauber oder entführte Kunstkritiker in die Berge. "Ich mag kolossale Kunst", sagt Minujin, die 1963 in ihrem ersten Happening namens "Zerstörung" all ihre Arbeiten verbrannt hatte.
Cecilia Caminos