Mit festem Schritt geht er die Dorfstraße entlang, den Blick konzentriert nach unten gerichtet. Dabei geht rund um ihn herum gar Wunderliches vor sich. Gut möglich, dass der Spaziergänger es einfach nicht sehen will: Ein riesiger Fisch liegt in der Koppel neben einer weißen Kuh, die von ihm und dem Spektakel rundherum seltsam ungerührt bleibt, immerhin sitzen und balancieren zwei Männer auf den umliegenden Hausdächern herum. Den Hauptdarsteller würde man, so man den Titel des Bildes nicht kennt, wohl erst ganz am Schluss bemerken: „Der Papierdrachen“. Ein Konstrukt aus ein paar Linien, schwebt er zart flatternd gen Himmel. Auch wenn beim Inhalt auf den ersten Blick vieles in Schwebe scheint, am Urheber des Bildes besteht wohl kaum ein Zweifel: Marc Chagall (1887-1985). Unverkennbar sein eindringlicher Stil, ein Alleinstellungsmerkmal, an dem er trotz überbordender Einflüsse durch die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts festgehalten hat. Das macht ihn zum idealen Kandidaten für Blockbusterausstellungen und zum Grundinventar der globalen Museumsshopindustrie.
Rote Kühe und andere Tiermotive, fliegende Menschen, Clowns, Gegenspieler, die Aufhebung der Schwerkraft und anderer einengender Grenzen, all das überlagert von einer Farbenpracht der Extraklasse. Chagall ist ein kunsthistorischer Popstar, dem man fälschlicherweise unterjubelt, dass dieser Fantasierausch ganz und gar heiter und unbeschwert ist. Dabei durchziehen sein Werk Melancholie, Angst, Sehnsucht und eine große Traurigkeit. Die Schau „Chagall“ (Kuratorin: Gisela Kirpicsenko), die finale Ausstellung von Klaus Albrecht Schröder in der Albertina, spannt nicht nur einen umfassenden Bogen um das Werk Chagalls, sondern bettet es in die zum Teil brutalen Umwälzungen dieser Zeit ein. Letztere hinterlassen massive Spuren im Werk des Künstlers, für den die Kunst der wichtigste Spiegel seines seelischen Zustandes ist. Darin spielte sich vor allem eines: jüdisches Leben, das fortwährend bedroht ist. Marc Chagall wächst als Moïche Zakharovitch in der Kleinstadt Witebsk, heutiges Belarus, in einer jüdisch-orthodoxen Arbeiterfamilie auf. Das zaristische Russland greift in das Leben im Schtetl ein. Chagalls Kunst, zutiefst durchzogen von seiner Herkunft, erzählt auch Teile der Geschichte osteuropäischer Juden.
Aber sie erzählt auch von den Anfängen der klassischen Moderne, das, was unter der Oberfläche brodelt und Anfang des 20. Jahrhunderts regelrecht explodiert – und Marc Chagall war mittendrin. 1910 verschlägt es ihn, mit viel Heimweh im Gepäck, nach Paris. Die vibrierende Stadt und ihre Künstler prasseln auf ihn ein, ziehen ihn in einen Strudel aufkommender Kunstrichtungen: Die Ausläufer des Impressionismus sind noch spürbar, der Fauvismus steht in voller Blüte, der Kubismus ebenso. Chagall tingelt durch die Museen und Galerien, lernt die Kunstschaffenden dieser Zeit kennen, darunter Henri Matisse.
Chagall lässt sich von all dem gerade so weit inspirieren, dass sich zwar seine Formensprache weiterentwickelt, aber seine Kunst sich einer speziellen Richtung verweigert. Faszinierend, wie sich Kubismus und Fauvismus in den Gemälden dieser Zeit, wie etwa „Golgotha“ (1912), auf Chagall-Art durchschlagen: Opulentes Grün und Rot fluten eine geometrisch strukturierte Landschaft mit einer Kreuzigungsszene. In den 1920er-Jahren wird er als Kunstlehrer in Witebsk auf einen weiteren Giganten der Kunstgeschichte treffen, dessen Kunst ihn gänzlich unbeeindruckt lässt: Kasimir Malewitsch.
Und wieder ziehen dunkle Schatten auf, in Europa greift der Antisemitismus um sich, 1941 muss Chagall nach Amerika fliehen. Er ist entwurzelt. Ab 1948 lebt er in Südfrankreich, stirbt dort mit 97 Jahren. Seine Kunst aber, die ist unsterblich.