Kugelschreiber, Tixo, Packpapier, diese Trias ist wohl der Albtraum vieler Konservatorinnen und Konservatoren. Hermann Nitsch war das offenbar egal, der Kugelschreiber war eines seiner liebsten Werkzeuge. Nicht, dass es nicht auch extravagant ging, mit einem „fetten, weichen und nach Hyazinthen duftenden Lippenstift“: Wir schreiben das Jahr 1965, Nitsch setzt im Keller eines Wiener Gemeindebaus für den Experimentalfilmemacher Stan Brakhage seine 16. Aktion um. Bahnen von Packpapier an der Wand, mit Wachskreiden skizziert er das Setting, nagelt Fleisch, Menstruationsbinden und Fische an die Wand. Mit dem Lippenstift zieht er eine Verbindungslinie.

 Kurator Roman Grabner vor der Arbeit „Golden Love“ 1967, ein opulentes Farbspektakel aus frühen Künstlertagen
Kurator Roman Grabner vor der Arbeit „Golden Love“ 1967, ein opulentes Farbspektakel aus frühen Künstlertagen © UMJ/J.J. Kucek 

Für Hermann Nitsch ist die Zeichnung das Drehbuch, die DNA, das Warmlaufen, für all das, was da noch kommen wird: „Die Zeichnung war der Nukleus seines Werkes. Sie dient als Impuls, als Ausgangspunkt“, erklärt Kurator Roman Grabner. Wohin alles strebt, ist auch klar – zum Orgien Mysterien Theater. Die Ausstellung „Hermann Nitsch. Zeichnungen“ geht an die Substanz des Gesamtwerks, an dessen Fundament.

Von den frühen Kritzelzeichnungen an, schraubt sich sein zeichnerisches Oeuvre mit enormer Intensität nach oben oder besser nach unten: Er entwirft mit enormer Akribie riesige unterirdische theatrale Spielstätten, nie für eine Umsetzung vorgesehen, wie auch! Allein „Das Drama Jerusalem“ hätte sich auf etlichen Quadratkilometern ausgebreitet. Es folgt, intensiv und persönlich, „Das letzte Abendmahl“ (1976-79), anatomische Zeichnungen, der Körper als Architektur – reduziert, schwungvoll, präzise. Und dann noch das genaue Gegenteil, seine Farbskalen, Werkzeuge für den emotionalen Supergau, der die Grundmelodie der Nitsch-Utopie bildet: Die Sinne auf die völlige Überforderung zutreiben, Explosion, Katharsis. Alle Sinneseindrücke, einem Orchester gleich, zum Höhenrausch bringen – eine synästhetische Grenzerfahrung für alle Nicht-Synästhetiker.
Susanne Rakowitz
Hermann Nitsch. Zeichnungen. Bis 23. Februar 2025. Bruseum im Joanneumsviertel, 8010 Graz. www.neuegalerie.at

Ausschnitt aus „Das Drama Jerusalem“ 
Ausschnitt aus „Das Drama Jerusalem“  © UMJ/J.J. Kucek, Susanne Rakowitz