Vom Boden bis fast unter die Decke reicht das Triptychon, füllt mit seiner Präsenz den großen Raum aus. Nur so ganz andächtig will hier niemand davorstehen. Es ist ein sich Annähern, mehr ein Versuch, das Gesehene einzuordnen. Fast irrational beschleicht einen ein ungutes Gefühl: Würde man den Bilderrahmen unten öffnen, würde ein gigantischer Wasserschwall gar den Raum fluten? Die hyperrealistischen Großformate von Robert Longo verfehlen ihre Wirkung selten: Der weiße Hai mit weit aufgerissenem Maul, eine Welle in voller Fahrt, die auch Hokusai begeistert hätte, das Gesicht eines Tigers, der Lauf einer Waffe in allen Einzelteilen – allesamt Zeugen seines handwerklichen Könnens.
Doch es gibt noch eine andere Seite von Robert Longo, die auch sein Motor ist: sein Leiden an der Welt und ihren Krisen. Den immergleichen Krisen, die kein Ende finden, sondern sich, was nicht selten ist, in ihrer Intensität noch steigern. Zu jenen gehört das eingangs erwähnte Bild. Es zeigt eine Szene, die wir Medien-Konsumenten schon vielfach gesehen haben: Ein Schlauchboot auf offener See, Menschen mit Schwimmwesten, die auf diesem schaukelnden Gefährt nah am Rand sitzen. Wir alle gehen wohl davon aus, dass es sich um ein Flüchtlingsboot handelt. Eine dieser Fotografien hat der 71-Jährige als Vorlage für sein Bild genommen. Man sieht dem Bild die vorangegangenen Analysen an, die sich nicht nur in der umgesetzten Stofflichkeit und Dynamik des Meeres niederschlagen.
Die Perspektive ist eindringlich: Das Boot ist im oberen Drittel der Mitteltafel positioniert, eingezwängt zwischen düsteren Wolken, einem aufgerissenen Himmel und dem unruhigen Meer. Steht man davor, steht man mittendrin im Geschehen. Das ist natürlich die große Stärke von Longos Werken, seine Kohlezeichnungen sind nicht weniger als eine Transformation des Geschehens, ein Auffächern der Bildwirkung in zusätzliche Ebenen, die weit über die Fotografie hinausgehen. Dramatische Hell-Dunkel-Inszenierungen, das Zelebrieren von Unschärfen und Übergängen, das Ausreizen der Bildtiefe. Das lässt sich besonders gut in jenem Bild nachvollziehen, das der Künstler für ein anderes Bild als Vorlage verwendet hat: Es zeigt eine Frau, die beim Gedenkmarsch für die ermordete Iranerin Mahsa Amini deren Bild in die Höhe hält. Longo setzt hinter die Botschaft der Fotografie mit einem Bild noch drei Ausrufezeichen hinzu. „Als Künstler fühle ich mich moralisch verpflichtet, die Bilder unserer gemeinsamen dystopischen Gegenwart zu bewahren – in der Hoffnung, dass sich eines Tages etwas ändern wird“, steht da als Raumtext.
Der gebürtige New Yorker setzte sich schon früh kritisch mit den Massenmedien seiner Zeit auseinander und wird deshalb auch der sogenannten „Pictures Generation“ zugerechnet, die Inhalte dieser Massenmedien durch Aneignung zum Nukleus ihrer Kunst machen. Bei Longo kam überdies noch eine traumatische Erfahrung hinzu: 1970 wurde beim Kent-State-Massaker, Studierende protestierten gegen die US-Invasion in Kambodscha, ein ehemaliger Klassenkamerad von Longo getötet. Die Fotografie ging um die Welt, eine prägende Erfahrung, die seinen Blick auf das Massenmedium Fotografie veränderte.