Queere Perspektiven, Familiendramen, politische Reden, Star-Glamour und Festivalfeeling: Die 73. Berlinale ist zu Ende – mit Überraschungen. Der Goldene Bär geht an den französischen Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert. „Are you crazy, or what?“ Also „Seid ihr verrückt, oder was?“, fragte er die Jury rund um Präsidentin Kristen Stewart. Der 72-Jährige stellt darin ein Tageszentrum für Menschen mit psychischen Problemen vor, das als Begegnungsraum auf der Seine schwimmt. Er filmt sie nicht nur, sondern spricht auch mit den Besuchern, die ihre Geschichten erzählen. Philibert erhebt sich nicht über seine Protagonisten. „Ich unterscheide nicht zwischen Patienten und Pflegern“, sagt er in seiner Dankesrede. Denn: „Die verrücktesten Leute sind nicht die, von denen wir denken, dass sie es sind.“ Ein großer, berührender Moment. Die diesjährige Jury-Entscheidung ist also eine, die den Humanismus als Grundlage hat, dabei aber nicht spektakuläre brennende Themen heraushebt wie noch vor einigen Jahren mit der Doku „Fuocoammare“, sondern den genauen Kamerablick auf ein verdrängtes Thema prämiert.
Den Großen Preis der Jury erhielt „Roter Himmel“ des deutschen Regisseurs Christian Petzold, bei dem u. a. der Wiener Thomas Schubert in einer Hauptrolle zu sehen ist. Der Franzose Philippe Garrel wurde für sein Porträt einer Puppenspielerfamilie „Le grand chariot“ mit dem Regie-Preis geadelt und die Drehbuch-Auszeichnung geht an die Deutsche Angela Schanelec für ihre Ödipus-Adaption „Music“. Der Preis der Jury ging an das Psychodrama "Mal Viver" des portugiesischen Regisseurs João Canijo, das von mehreren Frauen in einem alten Hotel erzählt. Die Kamera-Ikone Hélène Louvart erhielt den Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung im Drama "Disco Boy" mit Franz Rogowski. Die einfühlsam-poetische mexikanische Doku „El Eco“ von Tatiana Huezo gewinnt gleich zweimal: den Preis für die beste Dokumentation im Wert und den Regie-Preis der Sektion Encounters. Die Regisseurin dankt den Kindern und Familien in den abgelegenen Dörfern, die ihr Film porträtiert, und lobt die Widerstandskraft von Dokumentarfilmen.
Ein Mädchen geehrt
Der Schauspielpreis 2023 geht an ein Kind: Sofía Otero begeisterte die Jury im Coming-of-Age-Film „20.000 especies de abejas“. Die Jury begründete ihre Entscheidung so: "Selten sieht man so viele Emotionen und gleichzeitig erschütternde Einfachheit." Der Silberne Bär für die beste Leistung in einer Nebenrolle geht an die gebürtige Österreicherin Thea Ehre im Krimi „Bis ans Ende der Nacht“. Darin verkörpert sie eine Transfrau, die verdeckt im Drogenmilieu ermitteln soll. Sie bedankte sich bei ihren Eltern in Wels. Die argentinisch-österreichische Koproduktion „The Klezmer Project“ von Leandro Koch und Paloma Schachmann erhielt den GWFF Preis für das beste Debüt.
Und: Nach Österreich ging der Caligari-Filmpreis für den Film "De Facto" von Selma Doborac.