Es ist nicht das erste Mal, dass das Damoklesschwert über dem musikprotokoll schwebt und Einsparungsfantasien Szenarien möglich scheinen lassen, durch die das Festival kaum mehr durchführbar wäre. Seit die Chefin des ORF-Radio relativ ungeniert über Sparpläne dozierte, geht wieder einmal das Zittern los. Das älteste Avantgardemusikfestival Österreichs ist organisatorisch und programmtechnisch eng mit Ö 1 und den dort (international beispiellosen) Leisten für Neue Musik verknüpft.
Bei der Präsentation des 55. musikprotokolls übten die ORF-Macher des Festivals naturgemäß keine offene Kritik, aber das Stimmungsbild offenbarte sich zwischen den Zeilen. Man redete von der enormen Arbeit der ORF-Redakteure, die das ganze Jahr die Szene begleiten, was solche Projekte wie das musikprotokoll ermöglicht. Man sprach vom musikprotokoll als Radiofestival per definitionem, vom sonntägigen „Kunstradio“ (das immer auch den Festivalausklang bringt) als dem „Herz der internationalen Klangkunst-Szene“ etc.

Direkter konnte herbst-Intendantin Ekaterina Degot werden: „Die Finanzierung seitens des ORF muss gewährleistet bleiben. Zeitgenössische Musik gehört der Allgemeinheit. Man muss sich fragen, welches Publikum will man? Eines, das an Konsum interessiert ist, oder eines, das offen ist für ehrgeizige Kunst, eines, das Fragen an die Gesellschaft stellt?“

Markttauglich ist das, was von morgen bis Sonntag beim musikprotokoll aufgeführt wird, gewiss nicht. Aber vielfältig: von Computermusik bis zu Orchesterwerken, von immersiver Kunst, die über VR-Brille zugänglich wird, bis zu den Stücken, die vom Ambisonics Soundsystem im Dom im Berg profitieren. Alle möglichen Formen der Klangkunst werden protokolliert, bis hin zu der mit dem Fux-Preis ausgezeichneten Oper „Avatara“ im Grazer Mumuth.


Als thematische Klammer dient 2022 der Neologismus „Whodentity“. Die Frage nach der Identität stellt sich auch das Festival selbst. Mit dem Ergebnis, dass man die Geschlechterverhältnisse diesmal einfach umdreht. Wurden in der Frühphase des Festivals fast nur Männer gespielt, sind die Konzerte von RSO Wien, Ensemble Modern und Cantando Admont ausschließlich Werken von Komponistinnen gewidmet. Da kommt es auch zu posthumen Uraufführungen, wie im Fall von Luna Alcalay. Das Ensemble Zeitfluss dagegen spielt ein Porträt zum 70er von Gerd Kühr.
Installatives, Performatives und Digitales gibt es natürlich auch. Etwa das Onlineprojekt mit Av3ry, einer nicht binären, künstlichen Person, die personalisierte Musik erschafft.

musikprotokoll.orf.at