Wer Istanbul kennt und liebt, wird die Stadt am Bosporus und ihre zahllosen Farbschattierungen in diesem Roman auf vielfältige Art wiederfinden: „Ich falle in die Aussicht, ich fliege, ich segele über der Wasseroberfläche bis ins Schwarze Meer, es glitzert so unglaublich blau, grün, grau, türkis, silberfarben und wieder blau.“

Das Buch erzählt vorwiegend in Dialogform von der siebzigjährigen, armenischen Türkin Verkin, die der Ich-Erzähler David Wagner bei einem Sommerfest in Berlin kennenlernt. Als er sie später in Istanbul besucht, weil er eine Reportage über Shopping-Malls schreiben soll, berichtet sie, deren Name „Bewahrer des Wissens“ und „hohe Frau“ bedeutet, von ihrem filmreifen Leben zwischen Orient und Okzident. „Schau, Dolmabahce Palast, von einem Armenier erbaut, unterbricht sie ihren Gesang und erzählt mir, nun auf Deutsch, dass fast alle Architekten, die im Osmanischen Reich irgendetwas von Belang und Bedeutung erbaut hätten, Armenier gewesen seien.“

David Wagner: Verkin. Rowohlt, 400 Seiten, 27.50 Euro

Verkins Großmütter hatten den Genozid an den Armeniern überlebt, der Vater war ein wohlhabender Geschäftsmann in der Elektronik-Branche. Von den Studentenunruhen in Paris bis zu den Protesten am Tahrir-Platz, vom Schweizer Internat bis zur Hollywood-Prominenz in den USA ist es ein bewegtes (Jet-Set-)Leben, das hier ausgebreitet wird und in dem auch mehrere Ehemänner und Liebschaften Platz finden. „Wenn du erzählst, hört es sich an, als hättest du zwei, drei, vier Leben gleichzeitig geführt“, sagt der Erzähler einmal zu Verkin.

Entlang realer Vorbilder und Geschichten hat der Deutsche David Wagner auch schon in seinen Vorgängerbüchern „Der vergessliche Riese“ oder „Leben“ geschrieben. Hier ist dieser autofiktionale Roman als eine Art Road-Novel konzipiert, die in Gesprächsform quer durch die Türkei und das Leben der Heldin führt - sinnlich, spannend und teilweise fast märchenhaft. Es ist das Leben einer Feministin, Polit-Aktivistin und schillernden Frau, der oft der Schalk im Nacken sitzt: „Wieder einer, der den Fehler begangen hat, dich zu unterschätzen, sagte ich. - Männer unterschätzen Frauen allgemein, deshalb mache ich so gerne Geschäfte mit ihnen.“

Beim Spazierengehen und Teetrinken, im Auto und auf der Fähre entsteht ein dichtes Gewebe an Geschichten wie bei Tausend und eine Nacht. Man würde sie wirklich gerne persönlich kennenlernen, diese patente und unerschrockene Frau - von der man aber bis zum Nachwort des Autors nicht weiß, ob es sie so wirklich gibt: „Wäre dieser Roman das Protokoll als das er sich mitunter ausgibt, ...“ lässt David Wagner das kurzweilige, poetische Buch ausklingen - und die Antwort auf die Frage nach der Authentizität bleibt offen.