Mit Dreispitz, Messer und Augenklappe lebt der 13jährige Patch seine Phantasie als Pirat aus. Er hat nur ein Auge, daher macht ihn eine Augenklappe in den USA Mitte der 70er-Jahre zum Außenseiter. Seine beste Freundin Saint, die Bienen züchtet, Honig erzeugt und Klavier spielt, bleibt ihm über 30 Jahre lang verbunden, auch wenn sich ihre Wege mehrfach trennen. Auf die Bemerkung ihrer Großmutter Norma: „Es ist okay, mehr als einen Freund zu haben.“, antwortet die energiegeladene und burschikose Saint einmal trotzig: „Ich brauche aber nur einen.“ Diese Liebe zu ihrem Kindheitsfreund zieht sich als roter Faden durch den fast 600 Seiten starken, exzellent geschriebenen Roman, der von Melancholie bis Hoffnung eine breite Palette an Emotionen bietet.
In diesem wendungsreichen Pageturner des britischen Bestsellerautors Chris Whitaker (zuletzt: „Von hier bis zum Anfang“) überschlagen sich die Ereignisse, als schon auf der ersten Seite klar wird, dass der junge Pirat in Todesgefahr gerät. Er rettet ein Mädchen, das überfallen wird, gerät aber selbst in die Hand des Entführers und verschwindet in der absoluten Dunkelheit der Gefangenschaft. Nach 300 Tagen wird er dank der hartnäckigen Suche von Saint gefunden. Der Serienentführer und -mörder scheint gestellt. Doch der traumatisierte Patch ist nicht mehr derselbe, entfernt sich immer mehr von seiner Retterin und sucht obsessiv nach einem Mädchen Grace, das angeblich in der Dunkelheit bei ihm war. Gibt es sie wirklich oder hat sie nie existiert, wie die Polizei glaubt?
Farbig gestaltetes Geflecht
Die Leserin fiebert bald mit Patch mit, der bei seiner Suche quer durch die USA auf die schiefe Bahn gerät, mit Saint, die eine Eliteuni sausen lässt und Polizistin wird und mit Misty, der ursprünglich Überfallenen; man lernt die Eltern, Polizeichef Nix, Dr. Tooms und andere Bewohner des Kleinstädtchens Monta Clare kennen. Und dieses so differenziert und farbig gestaltete Geflecht an Charakteren ist die wahre Stärke des emotional berührenden Buches, bei dem der Kriminalfall fast nur eine Nebenrolle spielt.
Mehr Literatur
Karin Waldner-Petutschnig