Ob die (Friedens-)Taube am schwarzen T-Shirt des Neo-Juryvorsitzenden Klaus Kastberger programmatisch gedacht ist? Recht sanftmütig und über weite Strecken einhellig gingen die Diskussionen am ersten Lesetag über die Bühne des ORF-Theaters. Eröffnet wurde er mit zwei Texten, die im weitesten Sinne jeweils mit Fürsorge zu tun haben. Und beide Beiträge stießen auf wohlwollende Kritik. Vor allem „Wen ich hier seinetwegen vor mir selbst rette“ der Schweizerin Sarah Elena Müller, eine Suchtgeschichte voll starker Bilder und Allegorien, wurde als „klug und schön“ (Juror Thomas Strässle, der die Autorin eingeladen hatte) gelobt. Der parabelhafte Text rund um eine Ich-Erzählerin und ihren drogenabhängigen Mitbewohner lässt Jurorin Mithu Sanyal sogar an Ingeborg Bachmanns „Malina“ denken. Eine personifizierte Schwelle schied allerdings die Geister: „Von mir aus kann auch die Wand mitreden und der Kasten, ich find´ das super“, beschied Brigitte Schwens-Harrant, während sich Kastberger ereiferte: „Ich kann Texte, in denen Gegenstände sprechen, nicht ausstehen. Ich hasse den Kleinen Prinzen, ich hasse Harry Potter!“

Die von ihm vorgeschlagene Autorin Ulrike Haidacher beruhigte mit ihrer zarten Mutter-Tochter-Erzählung rund um das Sterben der Großmutter die Gemüter wieder. „Schwestern“ ist Teil des demnächst erscheinenden zweiten Romans der in Wien lebenden Steirerin, die als Kind „Schönsprecherin“ werden wollte, wie sie in ihrem Videoporträt erzählt. Das ist ihr auch gelungen, erntete sie doch nicht nur für den konventionell, aber feinsinnig erzählten Text Lob, sondern auch für ihren stimmigen Vortrag. „Wie man gut stirbt, wie man richtig lebt“, fasste Klaus Kastberger zusammen, auch Jurorin Mithu Sanyal war mit dem weiblichen Auftakt am Vormittag sehr zufrieden: „Beide Texte sind prächtig!“

Das Los der Lesereihenfolge hatte auch für die nächsten zwei Beiträge zufällig Geschichten mit thematischer Nähe zusammengespannt. Der Schweizer Jurczok stieß mit „Das Katangakreuz“ rund um eine kühle, traumatisierte Familie aber nur auf wenig Gegenliebe: „Diese Sprache ist etwas unterwältigend“, mäkelte Philipp Tingler. Viel besser gefiel ihm da schon der Text des gebürtigen Bosniers Tijan Sila („Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“): „Eine wirklich perfekte Geschichte“ sei das, von einer „Qualität des Tragisch-Komischen, die in deutscher Sprache sehr selten ist“. Nahezu alle Jurorenkollegen stimmten in das Loblied ein, und Klaus Kastberger erinnerte an den bereits verstorbenen bosnischen Schriftsteller Dzevad Karahasan, der in Graz eine neue Heimat gefunden hatte. Mit Tijan Sila dürfte jedenfalls ein erster Preiskandidat feststehen.

Schwer hatte es zum Abschluss des donnerstägigen Lesereigens dann die Deutsche Christine Koschmieder, die von Mithu Sanyal vorgeschlagen worden war. Bei ihrem Text, der „wie eine Zeitkapsel“ sei (Sanyal), beeindruckten zwar die penibel recherchierten historischen Fakten, doch das Beziehungsporträt aus den 1960er Jahren fiel weitgehend durch.

„Es kann nur besser werden“ steht auf einer Stofftasche zu lesen, mit der Eröffnungsredner Ferdinand Schmalz entspannt durch den ORF-Garten schlenderte. Eine erste Bilanz ziehend kann man ergänzend sagen: Der erste Lesetag war schon ganz gut! Und der Regen setzte erst nach dem letzten Autorinnen-Auftritt ein.