Aufmerksamkeitsorgien allerorts! Die Menschen posten permanent, wann sie aufstehen, wann sie zu Bette gehen und was sie dazwischen essen, trinken, treiben, denken, fühlen. Die schlimmste aller Strafen: Nicht gesehen und gehört werden. Wer online nicht existiert, ist auch in der realen Welt nicht vorhanden.
Nein, allerorts stimmt nicht ganz. Nincshof, ein burgenländisches Seewinkel-Kaff scharf an der ungarischen Grenze, will das genaue Gegenteil davon. Es will vergessen werden, verschwinden von der Landkarte und aus dem Gedächtnis der restlichen Welt; schrittweise wollen die Nincshofer sich herausnehmen aus der zivilisatorischen Aufgeregtheit, ihre Ruhe haben, ihren Frieden und damit – wichtig – ihre Freiheit wiedergewinnen. Schon einmal, in grauer Vorzeit, existierte das Dorf versteckt im Schilf. In diesen seligen Zustand will Nincshof zurückkehren.
In ihrem Debüt „Nincshof“ setzt die 1988 in Wien geborene und in einem burgenländischen Dorf aufgewachsene Schriftstellerin Johanna Sebauer ihrem biografischen Biotop ein schräges Denkmal in Form eines skurril-humorvollen „Heimatromans“ voll verschrobener Figuren und Ideen. Doch so leichtfüßig und süffig dieses Buch daherkommt – der Pusztapflaumenschnaps spielt darin übrigens eine wichtige Rolle –, so doppelbödig und philosophisch grundiert ist es. Der Gedanke des Vergessens oder vielmehr Vergessenwerdens ist im Zeitalter der hyperaktiven Ego-Shooter ein äußerst reizvoller.
Das finden auch die „Oblivisten“ von Nincshof, die hinter dem Projekt „Vergissmein“ stecken und es hinterlistig betreiben. Wikipedia-Einträge werden gelöscht, Straßenschilder abmontiert, Touristen vertrieben, Feierlichkeiten abgesagt.
Es droht allerdings Ungemach im Dorf in Gestalt einer zugezogenen Dokumentarfilmerin, die ihre neugierige Nase überall hineinsteckt; und ihr Mann, ein übermotivierter Italiener, will mit seinen südamerikanischen Irrziegen gar Touristen nach Nincsdorf locken. Und das ist natürlich brandgefährlich und hochgradig kontraproduktiv.
„Nincsdorf“ bietet nachdenkliche Unterhaltung auf gutem literarischen Niveau. Der Ton von Sebauer ist frech-forsch, aber nicht pointengetrieben. Die Idee hinter dem Buch ist oft zum Lachen, aber nicht lachhaft. Eine zentrale Figur im Roman ist die Witwe Erna Rohdiebl, die vom männerdominierten Oblivisten-Verein ins Projekt eingeweiht wird, da ihre Großmutter einst eine sagenumwobene Rolle als „Freiheitskämpferin“ im Dorf spielte. Blöderweise freundet sich die Erna mit der wissbegierigen Filmfrau an, erneut droht Gefahr.
Das Dorf an der Grenze soll also verblassen, verschwinden, vergessen werden. Und warum das alles? Der Ober-Oblivist Valentin klärt auf: „Weil Nincshof sich nicht herumkommandieren lassen soll von der Welt. Da passieren doch nur noch Dinge, von denen man kein Teil mehr sein will, oder? Die ganze Weltpolitik, die ganze Weltwirtschaft, unüberschaubar kompliziert. Nincshof soll frei sein von alledem.“ Gut möglich, dass in Zukunft anderswo weitere Oblivisten-Vereine entstehen.