Vor rund 30 Jahren wirbelte ein sonderbarer Autor die Literaturlandschaft in unseren Breiten gründlich und gebührend durcheinander. Einige seiner Markenzeichen: schräger, schwarzer Humor, gut abgemischt mit melancholischen Zwischentönen. Mit Romanen wie „101 Reykjavik“ verhalf Hallgrímur Helgason seiner Kollegenschaft und der meist unberechenbaren isländischen Erzählkunst zur überfälligen internationalen Anerkennung samt Monopolstellung.
Weitere preisgekrönte Werke folgten, manche Bücher blieben, gemessen an den Qualitäten des Autors, nur mittelmäßig, aber der große Schlag folgte erst. Mit „60 Kilo Sonnenschein“ startete Hallgrimi, wie ihn Kritiker in seiner Heimat gerne nennen, vor fünf Jahren eine vorerst gewiss auf drei Teile angelegte, höchst subjektive, sagenhaft komische und natürlich auch tragische Geschichte über Islands holprigen Weg in die Moderne.
Der nun veröffentlichte zweite Teil, „60 Kilo Kinnhaken“, ist am Beginn des 20. Jahrhunderts angesiedelt. Schauplatz ist erneut das fiktive Kaff Segulfjö(-d)ur, als Protagonist muss wieder Gestur, mittlerweile nach eigener Meinung heiratsfähig, etliche Schicksalsschläge hinnehmen. Der Ort bringt es durch den Fischreichtum ringsum zu erheblichem Wohlstand, die Bewohner verlassen ihre merkwürdigen Torfhöhlen, die Archaik verabschiedet sich, die Naivität bleibt, die Kriminalität in allen Varianten hält Einzug.
Geschickt verzahnt Helgason fast alle gängigen Genres, vom Krimi über den Pseudohistorienroman, von der Satire bis zur Liebesgeschichte. Hinzu gesellen sich etliche Anleihen bei den Islandsagas und den Mythen, die ja auf der Insel im hohen Norden sprudeln wie die – na ja, eh schon wissen. Keineswegs zuletzt zeigt der Autor auch Islands Schritte aus der Armut und Isolation. Gestur heißt in der Übersetzung übrigens Gast – das ist man in diesem vielschichtigen Werk äußerst gerne.
Werner Krause