Lizzo feat. Missy Elliott - "Tempo"

Frühjahr 2019, Primavera Sounds Festival in Barcelona, auf der Bühne direkt am Strand. Es sind so viele Fans gekommen, dass die hinten schon fast im Meer stehen müssen. Lizzo betritt die Bühne und kann es kaum fassen. Und das Publikum kann es kaum fassen, welche Show sie gleich abzieht, noch mit Playback, denn für eine Band hat das Budget vorerst nicht gereicht. Ein neuer Superstar ist geboren! Lizzo vereint Talent,  musikalische Offenheit (sie rappt, spielt Querflöte und steht auf Bands wie Mars Volta) und natürlich Body Positivity, für die sie ihre 140 Kilo voll einsetzt. Auf "Tempo" featuret sie die Queen der Musikerinnengeneration vor ihr: Missy Elliott.

Billie Eilish - "Bad Guy"

Frequency Festival, August 2019, Hauptbühne am Nachmittag. Auch hier viel zu wenig Platz für viel zu viele Menschen. Billie Eilish ist das Popwunder des Jahres, ein Hype, wie es ihn seit Jahren nicht mehr gab. Zurecht. Gerade ist sie 18 Jahre alt geworden, zugleich klingt sie abgeklärt und cool wie eine, die seit 20 Jahren auf der Bühne steht. So unangestrengt und trotzdem sauspannend muss man erst einmal auftreten. Ein Teeniestar, der zugleich doppelt so alte ZuhörerInnen fasziniert. Und sie ist auch noch dermaßen süß und sympathisch - siehe auch hier und hier!

St. Vincent - Fast Slow Disco

Slip my hand from your hand / Leave you dancin' with a ghost. "Fast Slow Disco" ist eine Neubearbeitung von "Slow Disco", eine Hommage an Madonna, inspiriert von Taylor Swift. Und einer der zwingendsten Pop-Dancetracks des Jahres. Beim Videodreh dürfte Frau Annie Clark auch Spaß gehabt haben ...!

Jamila Woods - "GIOVANNI"

Setzen, zuhören, jetzt gibt es Geschichtsunterricht. Jamila Woods hat auf "Legacy! Legacy" eine wunderbarste Lektion in afroamerikanischer Kulturgeschichte aufgenommen. Jeder Song ist ein samtiges Tribute an eine Künstlerin, einen Künstler - vertreten sind Jean Michel Basquiat, Betty Davis, Muddy Waters, Eartha Kitt ... und die Poetin Nikki Giovanni, wie auf diesem Track hier. Das klingt in der Theorie ziemlich streberhaft und gewollt, aber ist zugleich auch eine ganz wunderbar anzuhörende Soul-Platte, ohne das Verneigungs-Brimborium. Vielleicht verneigt sich in 20. 30 Jahren ja auch eine junge Künstlerin vor diesem kleinen Meisterwerk. 

King Princess - "Pussy is God"

Ok, im letzten Jahr hatten wir an dieser Stelle Janelle Monaé, die mit "Pynk" ein längst fälliges Hohelied auf das weibliche Geschlechtsorgan sang. King Princess geht noch einen Schritt weiter und besingt Pussys in ziemlich offen sexueller Form. Die junge Amerikanerin, quasi aufgewachsen im Musikstudio ihres Vaters, identifiziert sich als queer und lesbisch - und zeigte sich genauso ziemlich selbstbewusst im US-Playboy. "Pussy is God" jedenfalls kann man als die längst überfällige unverschlüsselte Hymne an lesbische Sexualität sehen, oder auch als einen genialen Popsong, der Spaß macht und ziemlich ins Ohr geht. Nicht wundern, wenn einen die Leute auf der Straße angaffen, wenn man gedankenverloren laut mitsingt!

Karen O & Danger Mouse - "Woman"

Die Indierock-Göttin von den Yeah Yeah Yeahs und einer der begnadesten Produzenten unserer Tage. Ein ganzes Album haben Karen O und Danger Mouse heuer mit "Lux Prima" veröffentlicht. Das ist nicht vom ersten bis zum letzten Track so großartig, wie das auf den ersten Blick aussieht, aber die Vorabsingle "Woman" macht richtig Spaß, und das Video ebenfalls: Hier stürmen Karen und ihre Freundinnen die Late Night Show von Stephen Colbert. 

Kim Gordon - "Sketch Artist"

Und jetzt zur Indierock-Kaiserin. Kim Gordon, immer schon saucoolster Part der coolen New Yorker Noiserock-Götter von Sonic Youth, hat mit Ex Thurston Moore und ihrem früheren Leben in einem Buch abgerechnet ("Girl in a Band", 2015), ihre Karriere als Bildende Künstlerin wieder aufgenommen und heuer mit 66 Jahren ihr Solodebüt veröffentlicht. Avantgarde wie sie ist, musste sie auch ihren Sound auch neu erfinden - mit Elektronik, Noisegitarrenreferenz und ihrem ikonischen stoischen Sprechsang. Im Video von Künstlerin Loretta Fahrenholz geht es auf eine ziemlich düstere Fahrt durch Los Angeles' Ober-Unterwelt. Und von Gordons glitzerbelidschattetem Blick möchte man lieber nicht getroffen werden.

Moor Mother - LA92

"Latasha got shot over orange juice." Latasha war eine 15-jähriges schwarzes Mädchen, das 1991 angeblich eine Packung Orangensaft in einem Geschäft in L.A. stehlen wollte - und vom Ladenbesitzer erschossen wurde. Einer der Auslöser für die Unruhen von 1992 in Los Angeles, die Moor Mother hier thematisiert, eine Spoken Word Poetin aus Philadelphia, die düsteren Rap, brutale Samples, Free Jazz und Afrofuturismus in anstrengenden, aber fesselnden Sound vereint. "LAPD on PCP, body bag, body bag, for you and me."

Sudan Archives - "Confessions"

Und noch eine klassisch ausgebildete Musikerin: Während Lizzo querflötet, spielt Sudan Archives Geige. Die kommt auch in ihrer Musik zum Einsatz, die sich aus den Einflüssen westafrikanische Rhythmen, sudanenischer Folk, R'n'B, Soul und looplastige experimentelle Elektronik zusammensetzt. 

Sampa The Great - "Final Form"

Wow, was für ein Auftritt, was für eine Attitude, was für eine Ansage, was für ein Name: Sampa Tembo kommt aus Sambia, lebte aber in Botswana, Kalifornien und Australien, wo sie studierte.  Thematisch geht es um nichts weniger als Herkunft - die Rückkehr nach Afrika, die eigenen Wurzeln, das Erbe, die Muttersprache. Funky, mitreißend, kraftvoll - ein Hit.

My Ugly Clementine - "Never Be Yours"

Eine neue Supergroup made in A! My Ugly Clementine sind Kathrin Kolleritsch (Kerosin95, Kaiko), Barbara Jungreithmeier (Daffodils), Mira Lu Kovacs (Schmieds Puls) und Sophie Lindinger (Leyya). Nun ist ja grundsätzlich bei Supergroups Vorsicht angebracht, aber hier ist mit "Never be yours" ein richtig toller Indiehit gelungen, der alles hat, was man so braucht - Retro-Gitarrenpopsound, der alles andere als unmodern klingt, ein Refrain, der gekommen ist, um zu bleiben. Wie hoffentlich auch My Ugly Clementine. 

Nilüfer Yanya - "In Your Head"

Und zum Schluss gibt's nocheinmal Indierock - von der türkisch-irisch-britischen Nilüfer Yanya, die sich seit ihren ersten Releases letztes Jahr für eine fixe Adresse im Indierock empfohlen hat, vor allem wenn es um nonchalanten, coolen, leicht schrägen, aber dennoch ungemein poppigen Alternative-Sound geht - so etwas gibt es nämlich noch. "In your head" (Name ist Programm) war die Vorabsingle zu Yanyas Debüt "Miss Universe". 

Bonusrunde

Weil ja das "Definitive Dutzend", wie die Kollegen einst den Rahmen für dieses Jahresrückblickformat festgelegt haben, viel zu eng ist, hier noch der Verweis auf die jährliche Spotify-Playlist. Darin zu finden etwa die Coverversionen des Jahres wie "I'm not in Love" von 10CC, neu hingehaucht von Kelsey Lu, "Forever Young" von Alphaville in einer wunderbar reduzierten Version von Anna F.s Friedberg (die heuer auch ein tolles Album abgeliefert haben!), Lana del Reys hinreißendes Update von Sublimes "Doin' Time" (das sie absolut zu ihrem eigenen Song gemacht hat), oder PJ Harvey, wie sie Nick Caves ikonisches "Red Right Hand" singt (einfach weil sie darf!). Dazu Schönheiten von Britanny Howard, Sleater-Kinney, K.Flay, Georgia, Santigold, Amanda Palmer, Weyes Blood, Angel Olsen, Ilgen-Nur, Sharon van Etten ... Falls es Ihnen bislang nicht aufgefallen ist: Heuer war ein verdammt starkes Jahr für Musik von Frauen.