Die Popgeschichte verläuft im Kreis. Dass sich die Älteren über die Musik der Jüngeren empören, über deren Geschmacklosigkeit, über mangelnden Anstand und Sittenverfall, das gab es schon 1954, als Elvis Presleys Hüftschwung die Elterngeneration in Alarmbereitschaft versetzte. „Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll“ wurde zum Vexierbild: Die einen sahen darin eine Chiffre von Freiheit und von Lebendigkeit, die anderen eher den Untergang des Abendlandes.

Seit einigen Jahren wird der Deutschrap haargleich diskutiert: Das Feuilleton berichtet von Drogeneskapaden, frauenfeindlichen Texten, Gewaltverherrlichung und in einzelnen Fällen von Antisemitismus. Ungeachtet dessen bricht diese Musik alle Rekorde. Ein Österreicher ist mittendrin im Deutschrap-Geschehen. RAF Camora stieß spätestens durch die Kollaboration mit Bonez MC aus Hamburg in die oberste Liga vor.

Der in der Schweiz geborene Wiener mit österreichisch-italienischen Wurzeln (bürgerlich Raphael Ragucci) ist von Berlin aus zu einem der größten Player der Popszene geworden. Ein Arbeitstier, das sich aus schwierigen Verhältnissen herausgeschuftet hat (er rappt heute noch von der „Favela Fünfhaus“), der sich mit Zielstrebigkeit und Fleiß von Plattenfirmen unabhängig gemacht hat.
Mit Bonez MC hat sich der erst auf Französisch rappende RAF Camora ab 2016 in Richtung Dancehall und Afrobeat bewegt. Der düstere Straßenrap ist Autotune-Exzessen und sonnigeren Beats gewichen. RAF Camoras Reime über Drogen, Frauen, Erfolg und Freundschaft sind ein Update des alten „Sex, Drugs, Rock ’n’ Roll“. Bürgerliche Eliten finden sie degoutant, linke Eliten verstörend. Denn das romantisch-utopische Potenzial von Popmusik ist aalglattem Unternehmertum gewichen: Standen Drogen einst für Bewusstseinserweiterung, werden sie im Deutschrap zum Mittel, möglichst viel Geld zu machen. Diese schweißtreibende Feier des kapitalistischen Unternehmergeistes, diese Umwertung der Werte irritiert sonst popbegeisterte Intellektuelle. Freilich: Neben all den stereotypen Machtfantasien und dem männerbündlerischen Gehabe passt auch bei RAF Camora fast nichts mehr hinein. Kaum Humor, kaum Ironie. Oder auch kaum ein in Ansätzen vernünftiges Frauenbild.

Und dennoch sind Stücke wie „Karneval“ perfekt gemachter Pop, bombastisch inszeniert, mit knochentrockenen Beats. Und die Freiheit, die Pop meint, sie schimmert selbst da durch. Autorin Cigdem Toprak schrieb zuversichtlich in der „Welt“: „Diese Musik spiegelt einen neuen Lebensstil wider, der die Zerrissenheit verschiedener Identitäten vereint und sich nach Ausgelassenheit sehnt.“ Es ist der künstlerisch neuartige Ausdruck einer migrantisch geprägten, urbanen Welt.