Die Imitation von Feierlichkeiten hat Saison: Im Frühjahr veranstaltete die Wiener Staatsoper bei Claudio Monteverdis „Orfeo“ eine Hochzeit, nun richtet die Grazer Oper anlässlich von Brittens Oratorium „War Requiem“ ein Begräbnis aus. Der Katafalk steht im Foyer, Chor und Statisterie begeben sich während des unendlich langsam vonstatten gehenden Entrees auf die weit in den eigentlichen Zuschauerraum hineingezimmerte Bühne samt Buffetaufbau. Das Orchester sitzt ganz hinten.
Das Totengeleit ist eine offiziöse Feier, staatstragend gar, die Lametta-Generäle mit ihren ordensverhangenen Heldenbrüsten, die Frauen (keine in Schwarz) mit langen Roben, deren Dekolletés sich während der Feier als wenig haltbar erweisen, Burschenschafter und Smokingträger, und und und. Die Risse im Gefüge zeigen sich bald, die latente Gewalttätigkeit der Honoratioren wird greifbar. Es ist eine Gesellschaft voller Brüche und Verwerfungen, die da auf dem Vulkan stolziert. Störenfriede sind jene beiden Solisten, die nicht den lateinischen Requiem-Text, sondern die Kriegsgedichte von Wilfred Owen auf den Lippen führen. Einer sieht aus wie das Phantom der Oper samt Halbmaske und Klumpfuß. Der andere wie ein Wiedergänger der Hardrock-Legende Lemmy Kilmister von Motörhead mit Uniformkappe, Eisernem Kreuz, Backenbart und Lederstiefel.
Das Spannendste an Fioronis Arbeit sind die Momente, in denen sich das Figureninventar zu surrealistischen Bildern drapiert, wenn in Matrosenanzügen (Symbol der Militarisierung von Kindern) Ballett getanzt wird, wenn die Debütantinnen wie bei der Opernredoute die Bühne abschreiten und ein mit einer Maschinenpistole bewaffneter Todesengel die Gesellschaft in Entsetzen versetzt. Da mag man Luis Buñuels Film „Der Würgeengel“ und seine Dekonstruktion des Bürgerlichen denken. Durch die Nähe der Akteure bekommt man vor Augen geführt, dass das alles ohnehin nicht echt ist: Aufgeklebte Bärte und Nasen, die typische „billige“ Anmutung der Kostüme, die man erst aus der Nähe erkennt. Ob dieser Illusionsbruch, der den Abend massiv mitprägt, intendiert ist oder nicht – schwer zu sagen.
Luis Buñuel, Bert Brecht – aber das ist noch längst nicht alles: Es gibt Protesttransparente, die von den Logen hängen, eine ganze Generation junger Menschen, die zum Kanonenfutter wird, ein vermeintlich totes Neugeborenes, das letztlich von einer schwarzen Frau gesäugt wird (das Prinzip Hoffnung winkt da mit dem Zaunpfahl) und viele Projektionen. Auf einer Leinwand sieht man wie sich eine Kamera durch das Stadtgebiet zielsicher den Weg zur Oper sucht. Eine Drohne? Am Ende steht „Ziel erfasst“, es gibt eine Detonation und Licht aus. Der von der Scheuklappen-Gesellschaft ausgeblendete Krieg ist letztlich doch im Hier und Jetzt angekommen.
So sehr Fioronis zwei bisherige Arbeiten in Graz faszinierten, so sehr geht sein theatralischer Schwung diesmal zu Lasten des Werks. Benjamin Brittens Musik steckt zwar voller Unruhe, aber ist über weite Strecken kontemplativ. Bei all dem lautstarken Gerenne, Gezappel, Getrampel verkommt die Musik zum bloßen Soundtrack. Die Degradierung zum Hintergrundgeräusch ist besonders bitter, weil die drei Solisten Markus Butter (als Lemmy), Matthias Kozioroski (als Phantom) und vor allem Flurina Stucki (als Todesengel/Kassandra) famos singen, Opernchor und Singschul’ in Hochform agieren und die Dirigenten Roland Kluttig (Hauptorchester) und Johannes Braun (Kammerorchester) eine formidable Leistung bieten. Man kriegt davon halt recht wenig mit, zumal wenn man das Pech hat, zu nahe am Dauergeschehen zu sitzen. Dann verbirgt sich die Wahrheit des „War Requiem“ sozusagen unter zentimeterdicker Theaterschminke.