„Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“ Das so betitelte berühmte Riesengemälde von Paul Gauguin aus dem Jahr 1897, das er selbst als Höhepunkt seines kreativen Schaffens betrachtete, zeigt Lebensphasen von der Geburt in Gestalt eines schlafenden Säuglings bis hin zum nahenden Tod, dem eine kauernde Greisin entgegensieht. Anders als beim französischen Maler, der sein symbolistisches Gemälde in seinem Südsee-Exil auf Tahiti schuf, sind wir bei „Morgen und Abend“ im kühlen, kargen Norden. Aber auch hier werden Urfragen des Menschen nach dem Sinn des Tuns und dem Ziel des Lebens gestellt. Vom Norweger Jon Fosse, der nach seinem gleichnamigen Roman (im Original „Morgon og kveld“, 2000) das Libretto schrieb, und vom Grazer Georg Friedrich Haas, der seit 2015 in New York lebt und lehrt und zu den weltweit wichtigsten zeitgenössischen Komponisten zählt.
Nach Aufführungen in London, Berlin und Heidelberg kam es nun zur Österreichischen Erstaufführung an der Grazer Oper. Und bei diesem „Heimspiel“ wurde der Triumph des Stücks fortgesetzt. Im gut gefüllten Haus gab es für die schwere Kost großen Applaus für das gesamte Team und für den anwesenden Komponisten, und das völlig zu Recht.
Die ungewöhnliche Ouvertüre mit Paukengewitter kündigt es schon an: Es ist eine harte, kalte Welt da irgendwo an Norwegens Küste. Das kühle Nordic Blue durch Nebel, Licht (Daniel Weiss) und Bühne (Rifail Ajdarpasic) unterstreicht das noch. Einsam steht Olai auf einem Strand mit Schwemmgut, in einer einem Schiffsbauch ähnelnden Kulisse. Er wartet auf die Geburt seines Sohnes. Cornelius Obonya (Interview zum Stück mit ihm hier) gibt in der Sprechrolle den bangenden Vater mit großer Emphase, seine Stimme ist kein Gesang und doch Instrument, das sich in die irisierenden Klangflächen einwebt. Als er den Sohn endlich im Arm hält, legt er ihn ins Bett, wo dieser sich in der nächsten Sekunde in einen Greis verwandelt. Es wird der Weg eines Menschen „vom Nichts zum Nichts“ geschildert, wie Olai sagt. Eines Menschen, heute angeschwemmt von der Zeit und morgen schon wieder weggeleckt vom Meer.
Haas und Fosse erzählen von diesem Menschen Johannes in jener Atmosphäre in gleißendem Licht und Ton, die Nahtoderfahrene schildern. Erzählen in Klang und Wort vom Sterben, bei dem in den letzten Momenten noch einmal Szenen des Lebens vor dem inneren Auge vorüberziehen. So erlebt es dieser Johannes, Fischer wie sein Vater, und wird noch einmal seiner Frau Erna, seinem besten Freund Peter – beide schon verstorben - und seiner Tochter Signe begegnen. Johannes verharrt benommen in einem Reich zwischen Hier und Dort, bis ihn Peter wie ein Charon in ein imaginiertes Boot setzt und mit ihm endgültig über den Styx rudert.
Diesen Schwebezustand, den eine aus dem Schnürboden herabsinkende stilisierte Blockhütte noch unterstreicht, hält Immo Karaman in seiner Inszenierung klug, klar und ohne Plakativität aufrecht. Der deutsche Regisseur findet eindringliche Szenen für die Endzeitstimmung eines Einzelnen, der der Welt und dem die Welt abhandengekommen ist.
Michael Tschida