Mit dem Start der Salzburger Festspiele am kommenden Samstag steht Intendant Markus Hinterhäuser vor der zweiten Festivalausgabe unter Coronavorzeichen. Im APA-Gespräch erklärt er, warum die Sehnsucht nach Gemeinschaft gerade in der Kunst wesentliche Bedeutung hat, warum "Don Giovanni" und "Intolleranza" zwei Pole der Weltwahrnehmung sind und wie die Festspiele im Lauf seiner Lebenszeit "viel Luft" hereinlassen konnten, ohne dabei ihre Aura zu verlieren.

Das Festspieljubiläum findet heuer zum zweiten Mal unter den Bedingungen der Coronakrise statt. Abseits von organisatorischen und logistischen Umständen - welche Bedeutung hat das in künstlerischer Hinsicht?
Markus Hinterhäuser:
Ich glaube nicht, dass die Bedeutung der Kunst, der Werke selbst, durch Corona im tiefen Kern eine nachhaltige Änderung erfahren hat. Es gibt einen anderen Aspekt, der mir wesentlich erscheint und den man noch nie so stark empfinden konnte wie in dieser uns alle überfordernden Pandemie: das Bedürfnis vieler Menschen nach Gemeinschaft, nach einem gemeinschaftlichen Erleben von Musik und Schauspiel, nach dieser unausgesprochenen Verabredung. Das hat auch mit einer Sehnsucht nach dem Auratischen zu tun, mit einer direkten, unmittelbaren Art der Kontaktaufnahme. Es geht eben nicht alles allein. Wenn Menschen aus einer Aufführung herauskommen und verändert sind - gemeinsam verändert - dann ist das mit das Kostbarste, was man erleben kann.

Die Salzburger Festspiele haben im Vorjahr stattgefunden und eine Coronaausbreitung im Festivalgeschehen erfolgreich verhindert. Trotzdem folgte für die Kultur ein hartes Jahr im Lockdown. Gab es da Ernüchterung?
Ich hätte mir gewünscht, dass das, was wir im Sommer möglich gemacht haben, in seinen Konsequenzen nachhaltiger gewirkt hätte. Wir haben ja keine andere Wahl, als durch sehr differenzierte Mechanismen zu lernen, wie wir mit dieser Situation und diesem unsichtbaren Gegner umgehen und leben können. Und wir haben gezeigt, dass es eine Möglichkeit gibt. Trotzdem wurde alles wieder zugesperrt. Ich bewerte das nicht und habe überhaupt keine Lust auf läppisches Politbashing, aber die Ernüchterung ist eingetreten, ja. Trotzdem hat in letzter Konsequenz Österreich und seine Kulturpolitik deutlich mutiger agiert als andere Länder.

Heuer bieten sie einen vollen Festivalkalender - und das meiste scheint zu halten. Probleme gibt es mit Beiträgen aus Großbritannien...
Bei den Künstlern aus Großbritannien haben wir allergrößte Schwierigkeiten, es war alles andere als eine leichte Übung, ein neues Orchester und einen neuen Chor für das "War Requiem" zu finden. Das ist nicht ein Mechanismus, den wir gewohnt sind: zu Pfingsten sagt für "Tosca" eine Harteros ab und eine Netrebko springt ein - das können wir. Aber ein Kollektiv von mehr als 200 Menschen zu ersetzen, ist schon eine andere Qualität der Herausforderung. Es gibt heuer viele Aspekte, die anstrengender sind als im letzten Jahr, wo wir das Programm sehr reduziert hatten. Dieses Jahr ist der Planung nach ein Festspielsommer, wie wir ihn seit vielen Jahren kennen. Wir schießen aus allen Rohren.

Die Infektionszahlen steigen aber, auch europaweit, an.
Das Pendel scheint wieder in die Gegenrichtung auszuschlagen. Wir arbeiten mit einem extrem definierten und strengen Sicherheitssystem im Haus selbst. Was draußen passiert, können wir nicht beeinflussen, nur appellieren an jeden, der das Haus betritt. Es ist ein dauernder Appell zur Achtsamkeit und zur Solidarität. Alleine schaffen wir es nicht, so eine wochenlange Veranstaltungsdichte durchzuführen. Es kann nur gelingen, wenn für alle, die daran beteiligt sind - sämtliche Mitarbeiter, Künstler, das Publikum, alle die dieses Haus betreten - klar ist, dass es nur mit Achtsamkeit und Solidarität geht.

Die Internationalität der Festspiele sorgt in der Pandemie für große Schwierigkeiten. Wie unverzichtbar ist sie?
Sie ist schon außerordentlich wichtig, die Welt. Die Salzburger Festspiele - und das ist keine Wertung und kein Hochmut, sondern tief in der Genese und der DNA eingeschrieben - sind ein internationales Festival. Es ist ja weltweit so, dass die sehr berühmten Festivals immer in relativ kleinen Geografien stattfinden, oft auch in sehr schönen Umgebungen, und die öffnen sich dann für ein paar Wochen und die Welt kommt herein. Diese Orte empfangen die Welt mit Zugeneigtheit und Großzügigkeit. So findet eine Bewegung statt aus vielen, vielen Ländern in Richtung Salzburg. Nie hätten wir uns vorstellen können, dass diese Bewegung nicht mehr möglich ist.

Die Pandemie hat manche Selbstverständlichkeit enttarnt.
Corona hat uns wirklich gelehrt, wie fragil die Mechanismen sind, von denen wir ganz fest geglaubt haben, dass sie unverletzbar sind. Das wurde uns sehr schockierend, aber auch nachhaltig vor Augen geführt. Und selbst wenn der medizinische Aspekt der Pandemie vorbei sein wird - die Pandemie und ihre Konsequenzen werden es noch lange nicht sein. Das gilt nicht nur für die Kulturbetriebe, es wird jeden Lebensbereich betreffen.

Die Vorlaufzeiten der Planung für so einen Festspielsommer sind lang, durch die Pandemie hat das große Verschieben begonnen. Sind die Teile noch in Bewegung?
Ja, der endlose Verschiebebahnhof steht nicht still. Ich verschiebe ständig. Man muss ja auch perspektivisch denken: Was ist leistbar, was ist möglich? Wir werden sehen, wie es ausgeht. 2022 und 23 sind im Grunde geplant, aber sie sind nicht ganz frei von dem, was in den letzten Monaten passiert ist. 2024 ist aktuell in Planung - und auch da sind Dinge dabei, die verschoben wurden.

Die beiden szenischen Opernpremieren heuer heißen "Don Giovanni" und "Intolleranza 1960". Gibt es eine Klammer über diese beiden Stücke?
Bei der Überlegung, was eine Erzählung sein könnte für 100 Jahre Festspiele, war für mich die Dualität von zwei Möglichkeiten der Weltwahrnehmung wichtig: Auf der einen Seite der ungebremste Individualismus und auf der anderen Seite das Kollektiv. Den Individualismus wollten wir darstellen anhand von zwei wesentlichen Figuren der Opernliteratur: Don Giovanni und Elektra. Das Kollektiv anhand von "Boris Godunow" und "Intolleranza", wobei wir Godunow aus Pandemiegründen nicht geschafft haben. "Intolleranza" ist fast eine Passionsgeschichte, eine wirkliche Bekenntnisoper: sie ist mehr als ein Appell, eigentlich ein Aufschrei, für die Menschenwürde, die Gerechtigkeit und die Menschenrechte. Ein ganz tiefes Nachdenken über die Frage der Toleranz und Intoleranz. Für mich ist das wirklich ein Stück, das jetzt, jetzt, jetzt aufgeführt werden muss. Es ist das Stück der Stunde, das Stück für diese Zeit. Man kann Nono zustimmen oder nicht, aber ich persönlich habe keinen Zweifel, dass eine künstlerische Aussage ankommt, wenn sie mit solcher zwingender Dringlichkeit manifest wird.

Auch die Attraktivität des Gegenpols, des Giovanni, hat etwas Zwingendes.
Natürlich! Giovanni, der in einem atemberaubenden Tempo seiner eigenen Zerstörung entgegenjagt, vollkommen empathielos, aber auch nicht wirklich schrecklich, ist eine sehr schwer zu fassende Figur. Sie agiert aus einem obsessiven individualistischen Motiv. In dieser Figur ist ein ungeheurer Magnetismus, man bewundert sie ein Stück weit, möchte vielleicht selbst sogar den einen oder anderen Charakterbezug haben, gleichzeitig flieht man ihr. Ich habe nicht ganz wenige Inszenierungen davon gesehen: der Mythos Giovanni ist nicht decodierbar. Alles, was man gesehen hat und sehen wird, ist nur eine Annäherung und das ist auch gut. Der Mythos ist älter als Mozart und Da Ponte, er findet sich in den Literaturen vieler Länder.

Mit Romeo Castellucci und Teodor Currentzis sind jedenfalls die Voraussetzungen für eine ungewöhnliche Annäherung da.
Der Salzburger "Giovanni" des jetzigen Sommers wird einer der allerungewöhnlichsten, die man überhaupt erlebt hat. Eben auch als eine Möglichkeit - weit weg von einer Endgültigkeit.

Mit der kurzfristig entstandenen "Cosi" aus dem Vorjahr und dem schon länger geplanten "Giovanni" sind Ihnen zwei Drittel einer Da-Ponte-Trilogie passiert.
Da muss ich gleich korrigieren. Es gibt keine Da-Ponte-Trilogie. Es gibt drei Opern, die den gleichen Komponisten und den gleichen Librettisten haben. Intendanten machen es sich vor allem leicht, wenn sie von einem Zyklus sprechen und ihn einer künstlerischen Konstellation anvertrauen. Was wir in der "Cosi" von Christof Loy und Joana Mallwitz erleben konnten, ist in jeder Hinsicht vollkommen gegensätzlich zu dem Zugang, den Castellucci und Currentzis haben.

Also kein "Figaro"?
Doch. Ich werde 2023 einen "Figaro" machen, und der wird wieder ganz unterschiedlich zu den anderen beiden sein. Wenn es dann tatsächlich einmal möglich ist, diese drei Inszenierungen vielleicht in einem Sommer zu zeigen, dann hat das Publikum die Möglichkeit, drei vollkommen unterschiedliche Herangehensweisen an Mozart und Da Ponte zu sehen. Das finde ich deutlich anregender als einen Zyklus.

Was ist Ihnen heuer besonders wichtig im Konzertprogramm?
Neben den wunderbaren Konzerten der Philharmoniker und der Begegnung mit den herausragendsten Pianisten unserer Zeit, sind es zwei Zyklen: Der eine heißt "Himmelwärts" und begreift Bach als Alpha und Omega der Musik. Damit kommen wir auch ein Stück weit zurück zu Corona und seiner Unsicherheit. Denn bei Bach erleben wir Musik als eine Art von Ordnungssystem, als unmittelbar erfahrbare, unantastbare Gesetzmäßigkeit. Zugleich passt es in den Zusammenhang von Individualismus und Kollektiv: Das Wesen der Musik von Bach ist die Mehrstimmigkeit, und gleichzeitig ist sie das Modell einer vollkommenen Gleichberechtigung aller Stimmen.

Der andere Zyklus gilt Morton Feldman.
"Stilllife" hatten wir letztes Jahr schon geplant, und er hat nichts von seiner Wesentlichkeit verloren. Ich halte Feldman für eine der originellsten und originärsten Erscheinungen der Musikgeschichte. Es ist ein anderer Aufruf zur Wahrnehmung von Musik, leichter als atmosphärische Luft, wie ein Klangmobile, das in Bewegung gesetzt wird. Auch in dieser manchmal etwas fordernden und dichten Festspielsituation schafft das eine Insel, wo man sich vollkommen anders mit Musik auseinandersetzen kann.

Sie haben selbst ein enges Verhältnis zur Musik Feldmans. Hat sich das Programmieren Ihrer persönlichen Favoriten als Erfolgsrezept erwiesen?
Mir ist die Musik von Morton Feldman extrem nah, ich bin einer der wenigen, die sein gesamtes Klavierwerk gespielt haben. Wenn ich etwas anbiete, wofür ich selbst eine starke Leidenschaft empfinde, fällt mir auch die Kommunikation deutlich leichter. Das hat auch mit Authentizität zu tun. Ein Intendant kann nicht zur Gänze objektive Kriterien in Anspruch nehmen. Meine Entscheidungen folgen in gewissen Momenten nachvollziehbaren Parametern, die ich zu erfüllen habe und die ich gerne erfülle - weil sie richtig sind. Aber dann gibt es Freiräume für Subjektives. Das liegt auch in der Entwicklung der Festspiele als Ganzes: da ist sehr viel Luft hereingelassen worden.

Sie haben bereits eine lange Festspiellaufbahn hinter sich, in verschiedenen Positionen. Was hat sich seit ihren Anfängen in Salzburg am meisten geändert?
Früher, als ich noch zur Schule gegangen bin, gab es am Sonntag vor dem Mittagessen im Radio Übertragungen der Salzburger Festspiele. Es begann mit einer Fanfare und dann wurden die Festspiele in mehreren Sprachen angekündigt. Das hatte einen Hang zum Pompösen, aber es war klar, dass da etwas ganz Besonderes stattfindet. In meiner Studienzeit bin ich dann im Festspielbezirk herumgeschlichen auf der Suche nach Karten für Generalproben. Die Festspiele hatten damals einen eher hermetischen Charakter. Das hat sich seit dem Beginn der 90er Jahre sehr geändert.

Geht mit dieser Veränderung auch etwas verloren?
Da muss man tatsächlich achtsam sein. Es ist ein Spiel mit der Aura einer Institution. Ein Spiel zwischen Nähe und Distanz. Zuviel Distanz ist alles andere als ergiebig und zu viel Nähe kann eine Form der Entzauberung sein. Die Veränderung, die Öffnung, ist irreversibel, das heißt aber nicht, dass man wesentliche Aspekte, die zur Geschichte und zum Faszinosum der Institution gehören, verlieren darf. Natürlich hat das auch mit den nicht totzukriegenden Klischees über die Festspiele zu tun, beispielsweise mit der Frage nach der Exklusivität, die gerne so missverstanden wird, dass möglichst wenigen Menschen der Zugang erlaubt wird. Für mich ist Exklusivität die ereignishafte Einmaligkeit.