Herr Direktor, im ersten Jahr einer Intendanz geht es auch darum, das Profil zu schärfen. Sie haben für Wien eine Rekordanzahl von Premieren angesetzt, um das Repertoire zu erneuern. Wie hat Corona Ihre Vorhaben beeinträchtigt?
BOGDAN ROŠČIĆ: Einerseits überhaupt nicht, andererseits natürlich zur Gänze. Der „Parsifal“, den wir gerade proben, (die Premiere am 1. April wurde wegen eines Coronafalls verschoben, Anm.) ist schon die siebte Opernpremiere in der Spielzeit. Nach den ersten drei konnte aber niemand diese Premieren im Saal selbst sehen. Andererseits haben wir alle verwirklicht, auf die Bühne gebracht, erarbeitet. Das heißt, wir haben sie jetzt im Repertoire. Im Fernsehen wurden sie von einem Millionen-Publikum gesehen, viel größer als jenes, das wir hier im Haus erreichen können.
Könnte aus den Streaming-Erfahrungen und den ORF-Übertragungen etwas entstehen, sodass man etwas Positives aus der Krise mitnehmen könnte?
Es ist wichtig, dass wir das machen, dieses Haus wird von allen ermöglicht und muss daher für alle da sein. Das Streaming soll auch kein Geschäftsfeld sein, sondern ein kostenloses Angebot an das breiteste mögliche Publikum. Aber die Krisenzeit gibt auch die Gelegenheit, nachzudenken, sich zu sortieren. Die Erfahrungen der letzten Monate bestätigen mit letzter Sicherheit: Das Wesentliche am Theater ist nur das, was im Saal passiert. Der leere Saal ist deswegen so traurig, weil man das Erlebte nicht teilen kann. Dieses Bedürfnis des Teilens, des sich Begeisterns mit anderen, die man gar nicht kennt, das ist übermächtig.
Das heißt, die Lehre aus der Krise ist, dass wir Kunst wieder viel stärker als soziales Erlebnis erkannt haben?
Ist es nicht schön, dass es Teile des Lebens gibt, die sich vom Digitalen nicht völlig auffressen lassen? Sonst geht ja alles genau in die andere Richtung: Eine App nach der anderen, die angeblich alles mit allem verbindet und in Wahrheit nur geschäftstüchtige Isolierung bietet. Dass es Bereiche gibt, die sich dem widersetzen, finde ich großartig. Auch das ist der Wert von Theater.
Wie motiviert man sich angesichts eines Dauerlockdowns seit 3. November und all der Unwägbarkeiten?
Man muss sich nicht motivieren, wenn man motiviert ist.
Das ist eine Suggestivfrage, aber denken Sie, dass die Kulturpolitik Fehler gemacht hat?
Ich glaube, die einzige Frage, die letztlich in den Geschichtsbüchern stehen wird, ist die, welche Fehler in Sachen Impfung gemacht wurden. Der ganze Rest ist objektiv schwierig, da soll sich die Kultur nicht verfolgt fühlen. Die großen Veranstalter reden intensiv über Sicherheitskonzepte, über das, was in anderen Ländern los ist. In Spanien zum Beispiel wird seit Monaten Theater gespielt, und dort ist die 7-Tages-Inzidenz ein Viertel der österreichischen. Die Theater können also kaum die Corona-Treiber sein. Wir glauben alle, dass wir im Herbst gezeigt haben, wie gut man das Publikum schützen kann. Dazu käme jetzt neu der FFP2-Zwang, ausgedünnte Sitzreihen und dann auch noch negative Tests… Auch ohne all das sagen mehrere wissenschaftliche Studien – Fraunhofer-Institut, TU Berlin – unwidersprochen, dass das Theater unter allen untersuchten Alltagssituationen die sicherste ist. Wäre es nicht Zeit, für die Kultur eine andere Corona-Strategie zu versuchen? Aber ich fürchte, die Gesamtlage ist zurzeit so, dass solche Argumente sich nicht durchsetzen.
Befürchten Sie durch die Krise mittel- oder auch langfristige Budgetkürzungen?
Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Die Staatsoper trifft es besonders schlimm, weil unser Eigendeckungsgrad so hoch ist. Wer so viele Karten verkauft und fast die Hälfte seines Budgets selbst verdienen muss, der ist von einer monatelangen Schließung besonders betroffen. Diese Ausfälle wurden uns bisher ersetzt, durch Sonderzuwendungen und durch Kurzarbeit. Aber wir sind im fünften Monat der Kurzarbeit alleine in dieser Spielzeit und es wird wohl ein sechster dazukommen. Für die Belegschaft ist das alles andere als lustig.
Gehen wir weg vom Thema Corona. Verschiedene Opernmetropolen nehmen für sich in Anspruch, ein besonders schwieriges Publikum zu haben. Wien ist keine Ausnahme. Ist das Publikum hier wirklich anspruchsvoller als anderswo?
In Wien, ich glaube, das kann man ohne Lokalchauvinismus sagen, gibt es ein besonders kenntnisreiches Publikum, das einfach sehr viel gehört hat und einordnen kann. Das Publikum hier lässt sich nichts vormachen, dem kann man keine Papiertiger als höchste Qualität unterjubeln.
Wenn man viel gesehen und gehört hat, gibt es aber die Neigung, dass man am besten weiß, wie es sein muss. Ist das Wiener Publikum nicht sehr konservativ?
Ich glaube, dass es in keiner Stadt das Publikum gibt, es gibt Gruppierungen, und letztlich Individuen. Die Reaktionen, die mich erreichen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Da gibt es vollkommen abgebrühte ehemalige Stehplatzler und auch Leute, die zum ersten Mal etwas sehen. Aber was folgt daraus? Die Staatsoper muss Programm für alle machen und wir dürfen uns bei der Arbeit nicht ständig fragen, wie welches Publikum darauf reagieren könnte. Aus dem Hochrechnen von vermeintlichen oder tatsächlichen Publikumspräferenzen ist noch nie etwas Ordentliches entstanden.
Das Repertoiresystem der Staatsoper mit den vielen gezeigten Stücken in jeder Saison ist einmalig. Es verlangt, dass Produktionen über Jahre funktionieren müssen. Ist das ein Hindernis, und ist es allen Regisseurinnen und Regisseuren bewusst, das einzukalkulieren?
Der Anspruch muss immer sein, dass eine Produktion auch ein Beitrag zum Repertoire ist. Ich halte den Repertoirebetrieb für eine gesellschaftlich wertvolle Sache und bekenne mich dazu. Wir sind mit der Idee gestartet, besonders wichtige Stücke des Repertoires neu zu erarbeiten – „Carmen“ oder „Traviata“ – und zwar sehr viel auf einen Schlag, daher auch einige Übernahmen. Aber die Frage nach der Praktikabilität ist nicht so leicht. Die „Carmen“ von Regisseur Franco Zeffirelli war seit 1978 vom Praktischen her eine große Belastung: Die hat 117 Techniker jeden Abend gebraucht, und die Staatsoper hat auch das irgendwie geschafft. Die Frage ist letztlich, wie viel Energie will man ins Thema investieren? Wenn wir sagen, das Szenische muss genau so ambitioniert sein wie das Musikalische, dann muss man auch neu definieren, was ganz genau „praktikabel“ heißt. Die größtmögliche Bequemlichkeit im Szenischen ist nicht unser Ziel.
Bleiben wir bei der neuen „Carmen“ von Calixto Bieito. Ist es denkbar, auch die Zeffirelli-„Carmen“ wieder zu zeigen, bzw. ist es vorstellbar, ein Werk gleichzeitig in verschiedenen Inszenierungen zu zeigen?
Ich denke schon, dass man, wenn etwas über 40 Jahre gelaufen ist wie Zeffirellis „Carmen“, dieses Kapitel auch einmal schließen kann. Dass man verschiedene Versionen zeigt, um unterschiedliche Ansätze zur Diskussion zu stellen, halte ich für möglich. Aber die Dinge, die wir neu machen, die möchten wir schon zeigen und nicht verstecken oder vor und zurück wechseln. Das wäre auch praktisch nicht möglich. Und die Staatsoper soll kein Inszenierungsmuseum sein.
Aber Sie haben mit "Figaros Hochzeit" eine alte Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle wieder zur Diskussion gestellt. Ein Phänomen, das man jetzt an vielen Bühnen in halb Europa sieht: Alte Inszenierungen werden hervorgeholt.
Die Ponnelle-Arbeit ist ja eine Meisterinszenierung, wenn auch die einer anderen Zeit. Ich glaube, dieser Trend ist eine Form der Auseinandersetzung mit dem Regietheater. Eigentlich eine lächerliche Kategorie, denn was ist Theater ohne Regie? Ich glaube ja, dass diese ganze Diskussion um „moderne Regie“ anderswo schon längst historisch geworden ist, und es geht nur noch darum, ist es gut oder schlecht. Aber dass man sich fragt, was war maßstabsetzend und wie gut hat es sich gehalten, das ist schon legitim.
Wie sieht es mit der Ensemblekultur aus, ist die bei der Verfasstheit des Betriebs mit all den herumjettenden Stars überhaupt noch möglich?
Die Staatsoper ist ohne großes Ensemble nicht führbar. Wir haben uns die Spielpläne der ersten Jahre angeschaut und die Struktur eines idealen Ensembles diskutiert: Wie viele Stimmen brauchen wir und welche genau? Dass man jemanden fest engagiert, den man dann zweimal in der Spielzeit braucht, das ist nicht zu rechtfertigen. Aber die Frage ist, wie setzt man das Ensemble ein? Singen die lauter erste Partien oder nur die „Wurzen“? Das Publikum der Staatsoper ist auch gewöhnt, dass Abend für Abend die besten der Welt auf der Bühne stehen. Ob die Berühmtesten der Welt auch immer die Besten sind, ist die nächste Frage. In Wien applaudiert man der Leistung des Abends, selten nur dem Namen. Aber ich möchte, dass das Ensemble immer wichtiger wird. Und es ist auch die Kunst einer Direktion, unnötige Gäste zu vermeiden, also jene, die außer zusätzlichen Kosten wenig beisteuern.
Wie kann ein Direktor die Sänger bei der Karriereplanung unterstützen? Direktoren gelten ja oft als die Bösen, die Druck ausüben und Stimmen verheizen.
Bei internationalen Gästen kann man wenig machen, weil die Karriereplanung unabhängig von diesem oder jenem Theater stattfindet. Wenn man sich mit jemandem besonders gut versteht und eine enge Beziehung da ist, diskutiert man solche Dinge natürlich trotzdem. Beim Ensemble hat man viel mehr Verantwortung, weil da das Haus viel direkter Druck machen kann. Aber das darf man nicht. Die Verantwortung liegt darin, dass man diese Stimmen Probe für Probe und Abend für Abend hört. Also die Entwicklung einer Stimme hört, begleitet, bremst, aber auch Dinge fordert. Auch das geht während Corona nur schwer bis gar nicht.