Der Regisseur Calixto Bieito hat eine Vorliebe dafür, die verborgenen Mechanismen der Gewalt freizulegen, die der Gesellschaft zugrundeliegen. Bei Georges Bizets „Carmen“ musste er nicht tief graben, er musste nur die Brutalität des Stücks betonen, alle davon ablenkenden Klischees entfernen, und schon ergibt sich ein garstiger, düsterer und blutiger Abend, ein typischer Bieito, in dem der Unterschied zwischen Sexualität und Gewalt unkenntlich gemacht wird. Mehr als zwei Dutzend Bühnen haben Bieitos Interpretation in den letzten zwei Dekaden gezeigt.
Da passt die Soldateska auch in Friedenszeiten ihre Opfer ab, da sind Militarismus, Machismo, Gewalt und Autorität ineinander verwoben. Begehren kommt in der Gestalt der Aggression, Gefühle tun weh, das Testosteron quillt förmlich über die Bühne: Und trifft auf die Fabrikarbeiterin Carmen, ein gurrendes Erotikon, das die Georgerin Anita Rachvelishvili mit ihrem großen, sinnlichen, blutroten Mezzo unvergleichlich zum Leben erweckt.
Der Sergeant José wird vom Strudel der Emotionen mitgerissen, bis er selbst der Logik der Gewalt anheimfällt. Dieses System teilt die Menschen eben in Täter und Opfer. Die selbstbestimmte Frau Carmen, für deren Schmähungen José sich rächt, ist das – vorerst – letzte Opfer in der niemals stillstehenden Spirale der Gewalt.
Romantisierende „Zigeuner“-Klischees müssen neuen Klischees weichen: Alte, dicke Mercedes-Limousinen, Goldketten und knallbunte Kleider sind die Staffage dieser aus Halb- und Unterwelt, Proleten und Gangstern bestehenden Szenerie in verlottertem Gipsy Chic. So etwas war vor 20 Jahren wohl noch Regietheater auf der Höhe der Zeit. Das Rad hat sich seither selbst auf der Opernbühne weitergedreht: Wirklich aufregend ist diese Inszenierung heute nicht mehr. Im doppelten Sinn.
Der vokale Star des Abends ist Piotr Beczala, der unspekakulärste, aber künstlerisch vielleicht verlässlichste der heutigen Welttenöre. Er singt einen differenzierten, ja fulminanten Don José und gibt ein Niveau vor, das nur Anita Rachvelishvili mit ihrem Wunderorgan halten kann, wobei der Zynismus der Carmen bei ihr unterbelichtet bleibt. Erwin Schrott ist ein rauhkeliger, grober Escamillo, Vera-Lotte Boecker eine blässliche Micaela.
Andrés Orozco-Estrada sorgt für Temperament, bleibt aber jeglichen Aha-Effekt schuldig, die lyrischen Passagen geraten bisweilen länglich. Das grundsätzliche Problem, bei "Carmen" glühende Leidenschaften mit den leichteren, fast komischen Tonfall anderer Szenen in Einklang bringen zu müssen, kann er auch nicht lösen. Dazu müsste man wohl das typische französische musiktheatralische Idiom der Oper zum Klangideal erheben - was heute kaum ein Dirigent mehr macht. Das Orchester und der Chor sind natürlich Spitzenklasse.
Der repertoirepolitische Akzent, den Staatsoperndirektor Bogdan Roscic setzen wollte, in dem er der alten, alle Traditionen und Konventionen bedienenden Staatsopern-„Carmen“ von Franco Zeffirelli die Version Calixto Bieitos entgegensetzt, ist ehrenvoll, aber keinesfalls gewagt: Es wirkt mehr wie eine Reverenz an einen Neo-Klassiker des Regietheaters, und eine Theaterwirklichkeit, vor der man in Wien jahrelang die Augen verschlossen hat