Die Schönheit erwächst aus dem Begreifen ihrer Vergänglichkeit. Die Musik ist die beste Veranschaulichung dieser Annahme: Denn kaum hat sie Gestalt angenommen, ist sie schon wieder verklungen. Dass Musik immer im Verschwinden begriffen ist, macht sie kostbar. Das und dass sie unser Zeitempfinden aufheben kann. Wer’s nicht glaubt, muss nur Richard Wagners Oper „Parsifal“ zuhören, wo es ausdrücklich heißt: „Zum Raum wird hier die Zeit.“
Die styriarte in Graz lädt seit 35 Jahren zu Einübungen in diese Materie. So nahe wie 2020 ist man aber noch nie an die Vergänglichkeit und letztlich ans Verschwinden herangerückt. Das Festival wurde der Coronakrise abgerungen. Es ist eine hochriskante Veranstaltung für die Festivalmacher, weil das Publikum ja nichts riskieren müssen soll und alle Gesundheitsauflagen erfüllt werden.
Eine Seifenblase statt eines Mondes
An solche Vorgaben gebunden, zeigten sich die stetig gewachsenen Charakterstärken des Festivals. Man glaubte mit einer Konsequenz, die selbst Salzburgs Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler erstaunt hätte, an eine styriarte im Sommer 2020. Man bewies die durch die Ansprüche des einstigen styriarte-Superstars Nikolaus Harnoncourt gelernte Flexibilität im Organisatorischen. Eine Flexibilität, die auch das Programmatisch-Dramaturgische erfasst, bis hin zur symbolhaften Verwandlung des Mondes zur fragilen Seifenblase im ursprünglichen zum aktuellen Sujet.
Doch der Mond bleibt trotz aller Veränderungen der Pate des Festivals 2020, in dem 22 verschiedene Konzertprogramme für maximal 250 Besucher stattfinden. Jedes dieser Programme aber mindestens drei Mal, manche sogar sechsmal oder noch öfter. Es sind lauter, so das Festivalmotto, „Geschenke der Nacht“, denn die Nacht hat zahllose Spuren in der Musik hinterlassen. Die Erhabenheit der Nacht war für die Romantiker wesentlicher Bezugspunkt. Etwa für Franz Schubert, dessen Nachtgesänge Bestandteil der „Mondnacht“ (4. und 5. Juli in Schloss Eggenberg) sind. Chöre und Lieder der Romantik treffen dort auf neue Lieder und barocke Vogelgesänge.
Dass die Nacht für die Romantiker auch die Schattenseite der Seele verkörperte, wird nirgends so deutlich wie beim Dichter und Komponisten E. T. A. Hoffmann. Peter Simonischek liest in „Romantische Nacht“ aus Hoffmanns Erzählungen, dazu ertönt Musik von Mendelssohn, Fauré und Hoffmann selbst (3. Juli, List-Halle).
Dass Mozarts „Don Giovanni“ ein Nachtstück ist, wurde oft behauptet. Der zur Hölle fahrende bzw. sich im Nichts auflösende Wüstling steht im Mittelpunkt von „Don Giovanni in Nöten“ (17./18. Juli, List-Halle), für das Dirigent Andrés Orozco-Estrada Opern-Auszüge mit Mozarts „Lodronischer Nachtmusik“ verknüpft. „Eine kleine Nachtmusik“ fehlt logischerweise auch nicht – die Serenade ruft uns in Erinnerung, dass die Nacht ebenso die Zeit ausgelassener Festlichkeit ist. Die Hofkapelle spielt am 16. Juli in der List-Halle auch Mozarts Klavierkonzert KV 414.
Festlich-barock fällt die „Notte Veneziana“ zwischen Vivaldi und Casanova am 8. Juli in der List-Halle aus, während das styriarte-Festspielorchester mit Händels „Feuerwerksmusik“ die festlichste aller Festmusiken in Erinnerung ruft (25./26. Juli Schloss Eggenberg).
Lorenz Duftschmid und das Armonico Tributo vergegenwärtigen am 15. Juli in der List-Halle den barocken Naturzauber. Die Natur erhebt aber auch in der Musik der Moderne ihre Stimme. Olivier Messiaen lässt in seiner Klaviermusik unter anderem die Heidelerche und den Waldkauz singen. Messiaen-Schüler Pierre-Laurent Aimard wird diese neben die „Hammerklaviersonate“ Beethovens stellen (14. Juli, List-Halle) und damit eines der Monumente der Klaviermusik neben das Ephemere des Vogelgesangs platzieren. Ein Nebeneinander, das zeigt, wie Kultur und Natur, Ewiges und Vergängliches unentwirrbar ineinander verschlungen sind