Wie gehen Sie, zu dessen Job es gehört, häufig auf Achse zu sein, mit der momentanen Situation um?
WOLFGANG MUTHSPIEL: Ich bin zu Hause mit meiner Frau und unserer vierjährigen Tochter, die das alles als Abenteuer empfindet. Nun genießen wir die intensive Familienzeit. Das ist das Positive an der jetzigen Situation. Eine wichtige Tournee durch die USA mit den Stationen New York, Boston, Los Angeles, Berkeley und Santa Cruz, die ich Mitte April mit meinem Trio antreten wollte, wurde abgesagt; wir sind dabei, diese auf Februar 2021 zu verschieben. Vielleicht muss auch noch eine zukünftige Tour in Europa abgesagt werden. Aber so geht es jetzt allen Musikern weltweit. Meine Unterrichtstätigkeit als Leiter das „Focusyear“ auf dem Jazzcampus Basel, bei dem neun internationale Musiker ein Jahr lang eine Band bilden und alle fünf Wochen von neuen Master Coaches betreut werden, ist natürlich auch stark betroffen. Einzelunterricht kann man über Skype machen, aber das Zusammenspiel in Gruppen fällt natürlich aus.
Siegfried Reisinger, nimmermüder Jazzveranstalter aus Fehring, unterfertigt seine Mails bisher immer und jetzt wohl in Fettschrift mit: „Be optimistic for the world“. Wie optimistisch sind Sie?
WOLFGANG MUTHSPIEL: Ich glaube, dass die Menschheit aus der jetzigen Situation lernen könnte. Es rücken wesentliche Dinge anhand der Krise in den Vordergrund. Es macht auch deutlich, wie alles miteinander verbunden ist und wie viel der Einzelne bewirken kann. Ich empfinde die Welt, die jeder in sich errichtet, sowieso die wichtigere.
..........Diese beiden Fragen an Wolfgang Muthspiel und seine Antworten waren nur Nachzieher. Denn wir hatten einander noch knapp vor den Quarantänemaßnahmen in Wien getroffen. Anlass waren seine Ende März bei ECM erschienene CD „Angular Blues“ mit Scott Colley (Kontrabass) und Brian Blade (Schlagzeug) und die (nunmehr verschobene) USA-Tournee. Damals sprachen wir mit Muthspiel über..........
…Wien: Nach meinem Studium am Berklee College of Music in Boston blieb ich ja ab Mitte der 1990er Jahre in New York und kam erst 2001 nach Wien, wo ich zuvor noch nie lebte. Ich fühle mich hier total wohl, es ist eine extrem angenehme Stadt, gerade auch mit einem Kind. Wenn ich allein an die soziale Absicherung denke und das mit den USA vergleiche….
…Basel: Ich bin künstlerischer Leiter das „Focusyear“ auf dem Jazzcampus Basel und unterrichte dort zwei Mal im Monat drei Tage lang. Das seit 2017 laufende Projekt ist ein durch eine Stiftung unterstütztes Vertiefungsworkshop, für den neun internationale Musiker ein Jahr lang eine Band bilden und alle fünf Wochen von neuen Master Coaches begleitet werden, in diesem Jahrgang etwa von Bugge Wesseltoft oder Django Bates. Am Ende nehme ich mit ihnen ein Platte auf mit deren eigenen Kompositionen. Es ist jedes Mal ein Traum zu erleben, wie diese Idee aufblüht, und dem tollen Treiben der Musiker und ihrer Begegnung mit den Meistern zuzusehen. Altermäßig gibt es für die Teilnehmer übrigens keine Einschränkungen: Wir hatte schon einen 18-jährigen Altsaxophonisten aus Los Angeles und einen 48-jährigen Posaunisten, der aus einem Symphonieorchester kam und noch einmal etwas ganz Neues angehen wollte. Ein Jahr zusammengespannt zu sein ist natürlich eine Herausforderung, musikalisch wie sozial, aber die Chance, so viel miteinander zu spielen, hat sonst keine Band. Und es ist für die Neun in Zukunft wahrscheinlich so wie bei mir auch: Man findet aus diesem Pool im Laufe seiner Karriere immer wieder zusammen und hat enorm wichtige Begegnungen, die einen prägen. Jetzt wären schon die dreitägigen Auditions für den nächsten Jahrgang, aber Italiener haben sich bereits gemeldet, dass sie nicht kommen dürfen wegen Corona…
…das neue Album „Angular Blues“: Fast jede Nummer darauf wäre Kandidat für den Albumtitel gewesen, Track zwei ist eben eckig und kantig, mit vielen Stopps und Starts. „Hüttengriffe“ wiederum ist das einfachste Lied, das ich je schrieb. Der Titel meint die Situation, wenn jemand in einer Hütte zur verstimmten Gitarre im Eck auf dem Haken greift und mit den paar Griffen, die er kann, Stimmung macht. Ich mag diesen Aspekt meines Instruments: Jeder kann ein bissl was auf der Gitarre spielen. Im Song geht es darum, das Amateurhafte allmählich zu öffnen und sich doch ganz zurückzunehmen. Colley und Blade wählen die simpelste Art der Begleitung, und gerade dadurch kriegt das Ganze einen ganz feinen Raum, eine Magie. Übrigens, wegen der Hütte: Ich selbst brauche keinen idyllischen Raum beim Komponieren: Natürlich wäre es schön, wie einst Gustav Mahler ein Komponierhäuschen zu haben, eine Kemenate, in die man sich extra zurückziehen kann. Aber für mich muss es nur warm und ruhig sein, und Zeit muss ich haben.
…Virtuosität und Reduktion: Ein Großteil der Volksmusik und des Pop besteht aus einfachen Akkorden und Melodien. Beim letzten Interview haben wir unter anderem über die Beatles gesprochen. Deren Songs hat man ja ganz episch in Erinnerung, dabei dauern die höchstens 2:30 Minuten – und doch tut sich meist ein ganzer Kosmos auf. Ich strebe nie nach Kompliziertem, außerdem ist Reduktion wohl auch eine Frage des Alters. Ich mag Virtuosität absolut und höre sie auch gern. Aber Virtuosität ist nicht Geschwindigkeit oder Artistik. Ein Musiker kann auch in einem langsamen Tempo virtuos sein, indem er brillante und magisch Klänge produziert.
…die Aufnahme der CD: Wir hatten ein paar Konzerte in Japan, und nach einem Abend in Tokyo sprach mich ein Musiker an, dass er ein sehr gutes Studio in der Stadt kenne. Also sind wir am nächsten Tag spontan dorthin, man empfing uns in sehr feierlicher Atmosphäre, und es war bestens ausgestattet mit alten Röhrengeräten, da wurde möglichst wenig prozessiert und equalisiert - ideal passend zu unserer zurückgenommenen Musik auf „Angular Blues“. Es war spannend , die neun Songs in ein oder zwei Takes an einem Nachmittag aus der Tube zu drücken. Natürlich könnte man auch tagelang an einer Nummer sitzen. Aber die Attitüde des Spielens ist eine ganz andere, wenn es eine gewisse Selbstverständlichkeit hat und man sich nicht auf die ewige Suche nach dem bestmöglichen Klang begibt. Ich habe die Songs genau für diese Konstellation geschrieben, und unser Trio lebt vom Fluss, vom spontanen Austausch, von der Konzentriertheit im Moment – das ist der Kern der Musik. Das Album mischen wird dann unter Beteiligung von Manfred Eicher in den Studios La Buissonne bei Avignon, wo ich meine beiden vorherigen Quintett-Alben für ECM aufgenommen habe: „Rising Grace“ und „Where the River Goes“, beide mit dem Pianisten Brad Mehldau und dem Trompeter Ambrose Akinmusire.
…zukünftige Pläne: Ich denke so in etwa zwei Jahre voraus. Das ist nicht ganz so schlimm wie bei Musikern im Klassikbereich, aber das ständige Aufbereiten der Zukunft ist nicht so super angenehm. Zum Glück habe ja eine großartige Schweizer Managerin, Sarah Chaksad, die mit mir auch das „Focusyear“ in Basel leitet.
Aus dem Nebel der Zukunft leuchten zum Beispiel weitere Projekte mit dem Large Ensemble heraus: Der Argentinier Guillermo Klein hat ja Kompositionen von mir für ein 15-köpfiges Orchester arrangiert, da gab es im Herbst vier Auftritte, unter anderem im Konzerthaus Wien und in der Elbphilharmonie Hamburg sowie eine Aufnahme. Nun ist auch für 2021 eine Tournee geplant.
Mit den Alben „Vienna, Naked“ (2012) und „Vienna, World“ (2015) habe ich mich ja als Singer-Songwriter präsentiert. Dem Gesang bleibe ich weiter treu. Singen ist so ein körperliches Gefühl, anders als beim Spielen. Ich arbeite allerdings auf zwei ganz anders gelagerte Projekte hin, die noch nicht spruchreif sind, aber wirklich sehr verrückt (lacht). Ich weiß noch nicht, ob die je zustande kommen, aber ich bin auf jeden Fall weiterhin im Gesangsunterricht: Zum einen in Wien bei der Griechin Olga Warla, die ehemals Staatsopernsängerin war, zum anderen bei Kurt Widmer in Basel. Der heute 79-Jährige war ja als Bariton selbst ein gefeierter Sänger und ist als Pädagoge ein echter Guru und nicht nur für mich ein Befreier der Stimme.
…die Begegnung mit einer Wunderstimme: Also, Philippe Jaroussky finde ich jedes Mal umwerfend, wenn ich ihn höre. Er ist einfach ein fantastischer Countertenor. Ich hatte ja mit ihm das Vergnügen bei Henry Purcells „Music for a while“, dem Projekt von Christina Pluhar, da spielte ich 2014 auf dem Album und bei einigen Konzerten mit, unter anderem in Paris in dem wunderbaren Théâtre des Champs-Élysées, in dem auch Igor Strawinsky „Sacre du Printemps“ uraufgeführt wurde. Pluhar hat sich mit ihren ungewöhnlichen Programmen und Interpretationen super durchgesetzt, außerdem hat sie großartiges dramaturgisches Talent und stets das richtige Gespür für das richtige Team.
…spirituelle Dimensionen: Ich saß vor dem Fernseher und machte meine Fingerübungen, da übertrug man Bachs „Weihnachtsoratorium“, aufgenommen 1982 in der relativ kleinen oberösterreichischen Stiftskirche Waldhausen. Nikolaus Harnoncourt dirigierte, es sangen unter anderem Peter Schreier und Robert Holl. Das war sehr bewegend. Und ich dachte mir: Das war unglaublich wichtig, dass diese Musiker das so aufführten. Wer so Musik macht, der ordnet sich in etwas Großes ein. Ich gehe zwar nicht in die Kirche, aber das hatte eine spirituelle Dimension.. Die Ausführenden und die Zuhörenden betreten mit der Musik eine andere Welt, und mit dem Schlussapplaus kehren alle wieder zurück. Es ist das Allerwichtigste, dass man mit Musik – egal, mit welcher – auf eine Reise gehen kann, das Schönste, was man aus ihr beziehen kann.
Michael Tschida