Traditionell bittet styriarte-Intendant Mathis Huber ins Grazer Palais Attems, um nach geschlagenem Festival ein Resümee zu ziehen. An der Wand des prunkvollen Eckzimmers hängt ein meterhohes Porträt von Nikolaus Harnoncourt. Die Schatten, die der 2016 verstorbene Dirigent wirft, die wird man bei der styriarte nicht so schnell los. Will man auch gar nicht. Muss man auch gar nicht. Mathis Huber wähnt sich als Bewahrer von Harnoncourts Kunstwillen. Denn dieser, so Huber, habe sich in seinen späten Jahren verstärkt darum gesorgt, wie sich Inhalte der Musik ohne allzu großen Verlust an ihre Zuhörer vermitteln ließen. Der Nutzen der Sache wird dabei sozusagen interessanter als die Sache selbst.
Als der Künstler Harnoncourt hier wirkte, hatte das Festival sein Gravitationszentrum. Über ihn konnte man Inhalte transportieren, er selbst konnte faszinierend vermitteln. Das Charisma, die Leidenschaft und die Kompetenz des verstorbenen Maestros fehlen der styriarte – dass diese Lücke nicht zu schließen sein würde, war aber den Beteiligten klar.
Dass Huber in der Post-Harnoncourt-Ära das Opernschaffen von Johann Joseph Fux als Leitfaden der Festivals bis 2023 ausgerufen hat, ist kühn. Nicht nur, weil diese Werke unbekannt sind, sondern auch, weil man bei Interpreten, Regie und Dirigat auf prominente, zugkräftige Namen völlig verzichtet. Man darf Hubers Instinkt, der das Festival seit fast 30 Jahren leitet, niemals unterschätzen. Unter seiner Ägide erlitt die styriarte nur selten künstlerisch Schiffbruch. Und Huber sieht die Fux-Ambition durch die positive Reaktion des Publikums bestätigt.
Die erneut sehr gute Auslastung der styriarte 2019 mit recht genau 30.000 Besuchern und Karteneinnahmen von 1,2 Millionen Euro sorgten merkbar für Erleichterung im Festivalbüro. Huber schaut mit einiger Zuversicht, ja Euphorie in die Zukunft: „Wir stehen wieder einmal in den Startlöchern.“
Die styriarte hat sich zu eigen gemacht, genau aufs Publikum zu hören. Das Festival ist stilistisch in die Breite gegangen, ständig experimentiert man mit neuen Formaten und Vermittlungsformen, die besondere Erlebnisse garantieren sollen, man veranstaltet Feste und Salons, Lesungen und Wanderungen. Ihr Charme und ihre Nähe zum Besucher machen die styriarte derzeit ziemlich einzigartig. Und man gibt sich so wenig elitär wie nur irgend möglich. Das kommt gut an, die Besucher lieben die entspannte Atmosphäre, wer es sich formeller und strenger wünscht, für den gibt es genug Festivalalternativen. Und vielleicht sorgt gerade die Atmosphäre dafür, dass das styriarte-Publikum (für österreichische Verhältnisse, wohlgemerkt) relativ unkritisch anmutet.
Und doch bleiben Fragezeichen. Im Spannungsfeld zwischen Zugänglichkeit und Tiefe läuft ein sich verbreiterndes Festival naturgemäß Gefahr, beliebig zu werden. Nicht wenige Klassik-Snobs rümpfen die Nase über das styriarte-Programm, finden es zu bunt, zu flach. Sie haben nicht ganz unrecht. Man darf das Publikum selbstverständlich nicht nur bedienen, man muss ihm auch etwas zumuten, es fordern und überfordern. Nicht als Zwangsbeglückung, sondern als Hinweis auf Perspektiven. Man muss Zugänge legen, aber nicht das Ziel aus dem Auge verlieren, indem man so tut, als wäre Kunst einfach zu verstehen. Oder überhaupt zu verstehen. Dass der letzte Satz von Mozarts Jupiter-Symphonie und ein Sonett von Shakespeare die Vorstellungskraft übersteigen, das soll man spüren dürfen. Das Gefühl für ihre Erhabenheit ist das, was Kunst in Kunst verwandelt. Und das Erhabene hat etwas mit Schrecken zu tun.
Schrecken durfte man sich auch heuer: angesichts Beethovens Streichquartett-Marathon, von zeitgenössischer Musik, der unerschöpflichen Schönheit barocker Musik. Lauter kostbare, unersetzliche Momente, für die die styriarte steht und weiterhin stehen muss. Das ist sie dem streng dreinblickenden Herrn am Riesenposter im Eckzimmer schuldig.
Die styriarte 2020 findet von 19. Juni bis 19. Juli statt. Das Thema heißt "Geschenke der Nacht".