Es fällt nicht leicht, Hitlers Reichsmarschall recht zu geben. Hermann Göring schrieb 1943 ein geharnischtes Telegramm an den Intendanten der Staatsoper in Berlin: „Es ist mir unfassbar, wie die Staatsoper diesen aufgelegten Bockmist aufführen konnte.“ Göring hatte soeben das Libretto von „Das Schloss Dürande“ gelesen. Der Text zur letzten Oper des Schweizers Othmar Schoeck stammt von Hermann Burte, einem volkstümlichen Reimeschmied und glühenden Anhänger der NSDAP. Basis seiner knatternden Verse war die gleichnamige Novelle Joseph von Eichendorffs, die in den Anfängen der Französischen Revolution spielt.
Die Geschichte: Junger Graf liebt junge Försterstochter, deren Bruder Renald hintertreibt die ungleiche Liaison, tötet irrtümlich beide Liebenden und sprengt das Schloss des Grafen. Der Schluss hatte die Premierengäste schockiert. War die Explosion ein britischer Bombenangriff oder Theaterdonner? Göring wiederum dürften Ähnlichkeiten des Fanatismus Renalds mit dem seiner eigenen Anhänger gestört haben. Die Schweizer warfen ihrem wichtigsten Komponisten die Zusammenarbeit mit dem verhassten Nazistaat vor. Das Werk verschwand bald.
Das störte Mario Venzago, der sich seit Langem für die Musik seines unterschätzten Landsmanns einsetzt. Der einstige Grazer Chefdirigent (1991–1994), derzeit künstlerischer Leiter des Berner Symphonieorchesters, startete einen aufwendigen Rettungsversuch. Zunächst klärte Venzago die Frage, ob die Musik nicht selbst infiziert wäre vom Zeitgeist. Sie hielt dem wortlosen Test stand. Nun nahm ein Projekt seinen Lauf, das in der Musikgeschichte nicht seinesgleichen hat.
Ein Team der Hochschule der Künste Bern griff ein, man studierte Victor Klemperers LTI (Lingua Tertii Imperii), eine Studie zur Veränderung der Sprache im Nationalsozialismus, und verglich Burtes Text damit. Es fanden sich viele Überschneidungen in Ton und Wortwahl. Der Schriftsteller Francesco Micieli machte sich auf die mühselige Suche nach Ersatz. Einen Text zu einer fertigen Oper zu schreiben, ist ein kühnes Unterfangen. Micieli wollte zudem nicht selbst Autor sein, sondern Eichendorff wieder in sein Recht setzen. Er fügte also Textstücke aus der Novelle ein. Wo das nicht ging, griff er auf Lyrik des Romantikers zurück.
Ein Großteil der plumpen Verse Burtes verschwand so spurlos. Venzago blieb die mühsame Aufgabe, die Singstimmen dem neuen Textbuch anzupassen. Der Vergleich beider Fassungen, die Thomas Gartmann in seiner Dokumentation „Zurück zu Eichendorff!“ abdruckt, zeigt die Tiefe des Eingriffs. Micieli ersetzte auch Stellen durch hochwertiges Material Eichendorffs, die politisch unverdächtig, aber sprachlich minderwertig waren.
Dass Schoeck selbst den Burte-Text nicht liebte und vieles schon in Kenntnis der Novelle komponiert hatte, ehe Burte noch lieferte, nahm das Team als Rechtfertigung für seinen radikalen Eingriff. Im Vorjahr hatte Venzago das neue Werk konzertant mit seinem Orchester getestet. Der Applaus – Apple-Music hat den Mitschnitt veröffentlicht – spricht dafür, dass die Musik den aufwendigen Rettungsversuch wert war. Die Anschlüsse, die Venzago durch seine Kürzungen und Anpassungen an den neuen Text hinzufügen musste, fügten sich nahtlos ins neue Ganze ein. Aber würde das neue Werk auf der Bühne funktionieren?
Wiedergeburt mit Widerhaken
Bei einer historisch belasteten Oper wie dieser stellt sich eine Vorfrage. Soll die Werkgeschichte mit auf die Bühne oder nicht? Ansgar Haag, der Intendant des des Staatstheaters Meiningen und Regisseur des Abends, entschied sich dagegen. Er wollte das Werk als solches zeigen und brachte so dessen immanente Schwächen ans Licht. Wir sehen ein schiefes Gebäude, einen Innenraum gebaut aus Außenfassaden. Bernd Dieter Müller und Annette Zepperitz zeigen die vorrevolutionäre Schieflage Frankreichs. Projektionen erklären den Rest.
Haag zeigt die bizarre Dreiecksgeschichte (siehe Artikel links) ohne jeden Versuch einer Deutung und erweist Dichter und Komponisten damit keinen guten Dienst. Was Eichendorff und Schoeck an dem Stoff fasziniert haben mag, bleibt so im Dunkeln. Ansatzpunkte hätte es genug gegeben. Eichendorff schließt seine Novelle mit ihrer Deutung: „Du aber hüte dich, das wilde Tier zu wecken in der Brust, dass es nicht plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt.“
Bei „Penthesilea“, derzeit in Linz zu sehen, hat Schoeck 1927 die mörderische Seite der Leidenschaft schon einmal aufgegriffen – schroff, scharf und ohne Rücksicht auf Wohlklang. Zehn Jahre später meidet der Komponist, der sein neues Werk am Vortag des Kriegsausbruchs zu Ende skizziert hatte, jedes Risiko. Wohltönend, süffig und leicht verständlich fließt die Musik dahin, als ginge es nicht um Mord und Brand. Der grandiose Liedkomponist gerät in seinem Versuch, die künstliche Volkstümlichkeit Eichendorffs auf die Opernbühne zu bringen, manchmal hart an die Grenze zur Banalität, zur Operette.
Weil der Regisseur nichts zur szenischen Brechung der Scheinidylle unternimmt, sind Peinlichkeiten die Folge. Dafür entschädigen die Protagonisten: Shin Taniguchi gibt mit wohltönender Stimme dem finsteren Renald ein Gefühlsleben, das Burte ihm nicht gegönnt hatte. Ihm zur Seite die innige Gabriele der Mine Yücel und der stimmgewaltige junge Graf, Odrej Saling. Meiningens Chefdirigent Philippe Bach entlockte dem Meininger Orchester betörende Klänge. Anhaltender Jubel.
Thomas Götz