Irgendwann senkte er die Arme und ließ das Orchester einfach spielen. Nur mit wiegenden Bewegungen des Oberkörpers schien er die Energieströme zu leiten. 1989 und 1992 erreichten die Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker ihre ans Wundersame grenzenden Höhepunkte. Carlos Kleiber stand in diesen Jahren am Pult und brachte die Hundertschaft an Walzerexperten dazu, auf der Sesselkante zu musizieren. Der Klangzauberer setzte die Walzer und Polkas der Strauß-Familie unter Hochspannung, sie klangen aberwitzig virtuos und doch frei, gelöst, sie explodierten vor Temperament und strahlten in voller Pracht. Und Kleiber träufelte zuweilen Gift in diese berauschenden Glanzstücke der Donaumonarchie, machte Untiefen ausfindig, die kein anderer aufzuspüren vermochte.
Dabei war das Verhältnis Kleibers zum Orchester oft äußerst angespannt. Man feierte gemeinsam Triumphe, durchlebte aber auch Entfremdungen. Legendär der Eklat von 1982, als Kleiber von der Probe weg abreiste, weil er vermeinte, die Musiker würden ihm den Dienst verweigern.
Kein Zweifel, dass die Philharmoniker Kleiber trotzdem liebten. Denn die Chemie zwischen Orchester und Dirigent muss stimmen, wenn es um eine Einladung geht. Nur eine handverlesene Gruppe an Pultstars wurde gefragt. Sympathieträger des Orchesters wie Zubin Mehta, Riccardo Muti und Mariss Jansons kamen wiederholt dran, andere wie Georg Solti, Leonard Bernstein oder später Simon Rattle durften nie.
Das liegt auch daran, dass der Usus, jedes Jahr den Dirigenten zu wechseln, relativ neu ist. Von den im Nationalsozialismus wurzelnden Anfängen des Konzerts 1941 bis 1955 dirigierte Clemens Krauss. Dessen schwerblütige, doch spannungsgeladene Dirigate wurden nur 1946 und 1947 von Josef Krips unterbrochen, als die Alliierten ein Berufsverbot über Kraus verhängt hatten. 1956 begann die Ära Willi Boskovsky, der die Konzerte bis 1979 leitete. Der Erste Geiger der Philharmoniker war wie Johann Strauß Sohn ein Stehgeiger. Damals hörte man die Wiener DNS dieser Musik, weitergegeben von Generation zu Generation.
Kritik an der Weisheit der vielen verbietet sich, auch wenn man diese Walzerseligkeit nicht an den bis ins Detail ausgefeilten Interpretationen messen kann, die später Brauch wurden. Mariss Jansons etwa verwandelte die Walzer in symphonische Dichtungen. Zuletzt 2016 entlockte er dem Orchester eine reiche Klangfarbenpalette, arbeitete an Schattierungen, Stimmungen und Temporückungen. Die Flötentriller im Walzer „Sphärenklänge“ wecken bei ihm die Vorstellung von einem Schwarm auffliegender Schmetterlinge. (Bei Kleiber klingt dieselbe Stelle, als würden plötzlich Vögel mitsingen. Ein Moment, der an ein Wunder grenzt.)
Jansons betonte wie so manch anderer (etwa der oft zurückhaltende, nachdenkliche Franz Welser-Möst) die Melancholie. Denn, so die Lehrmeinung der Philharmoniker: Wer Schubert kann, der kann auch Strauß. Die Lebensfreude kann da wie dort schnell in Traurigkeit umkippen. Nikolaus Harnoncourt zeigte das mit gebotenem Ernst, aber auch ein Daniel Barenboim.
Manchmal wachsen Dirigenten über sich hinaus: Zubin Mehta, in den 1990ern eher spannungsarm unterwegs, zeigt in seinen späteren Konzerten enormes Gefühl. Riccardo Muti verschränkt in seinen besten, überwältigenden Momenten Raffinement und Schwung, während Herbert von Karajans legendäres Dirigat 1987 zwar klangschön, aber fast schon zähflüssig anmutet.
Egal, wer dirigiert und wer dirigieren wird (es wird in 10, 15 Jahren wohl auch einmal eine Frau sein), die Hauptrolle spielt das Orchester, seine Klangschönheit, sein Walzergefühl. Da braucht es letztlich keinen, der es belehrt, wie es geht.
von Martin Gasser