Wenn sich am Sonntag der Vorhang im Theater an der Wien hebt, wird mit Robert Carsen ein Stammgast im Regiestuhl des Hauses seine Deutung von Alban Bergs "Wozzeck" präsentieren. Vor der Premiere sprach der 63-jährige Kanadier über seinen Stil ohne Stil, Büchners Stück als Vorwegnahme der Psychoanalyse und das Überleben der Gattung Oper.
Sie arbeiten als Regisseur in jeder Opernepoche. Versuchen Sie, die einzelnen Stücke mit einer eigenen Carsen-Sprache zu verbinden?
Mein Stil ist, keinen Stil zu haben. Mein Job ist, zwischen dem Publikum und dem Werk Brücken zu bauen. Die Gesellschaft hat sich nicht verändert - aber die Geschichten. Deshalb kann man nicht überall die gleiche Soße drüberleeren. Jedes Stück ist unterschiedlich. Ich versuche so zu arbeiten, dass das Werk mir sagt, was es möchte - auch wenn das jetzt etwas komisch klingt. Ich versuche, den Stücken so nah zu kommen, dass sich mir ihre innere Struktur offenbart.
Womit starten Sie, wenn Sie sich ein Werk wie "Wozzeck" neu erarbeiten?
Wenn ich ein Werk noch nicht kenne, beginne ich mit dem Hören der Musik und dem parallelen Lesen des Librettos. Und dann fragmentiere ich das Werk, bevor ich die einzelnen Teile wieder zusammenbringe. Im Falle von "Wozzeck" beschäftige ich mich etwa sehr mit Büchner und Bergs Umgang mit seinem Text. Was Büchner über den Menschen als solches in seinem Stück sagt, ist einzigartig in der Geschichte der Weltliteratur. Da geht es erstmals um einen ganz einfachen Menschen, keine Götter oder Herrscher. Es ist noch heute ein Symbol unserer Zeit mit ihrer Grausamkeit und der Isolierung der einzelnen Personen, die nicht kommunizieren können.
Wirkt "Wozzeck" deshalb immer noch so frisch, so zeitgenössisch?
Die Einsamkeit des Individuums und der zerfallende Zusammenhalt einer Gesellschaft sind die zentralen Aspekte des Stücks wie unserer Tage. Auch hat Büchner einige Elemente der Psychoanalyse Freud vorweggenommen. Alles ist furchtbar deprimierend und niemand kann dem anderen helfen.
"Wozzeck" hat mit seinen 15 Szenen eine sehr präzise Struktur: Wie gehen Sie damit um? Muss man sich als Regisseur daran abarbeiten?
Da geht es in eineinhalb Stunden extrem schnell voran mit all diesen Themen. Und Bergs Musik ist wie eine Explosion, die auseinanderstrebt, aber ein gemeinsames Ziel hat. Deshalb muss man am Beginn eine Idee haben, wie man von einer zur anderen Szene kommt. Bis auf Marias Zimmer sind alle Schauplätze unterschiedlich. Der eigentliche Schauplatz ist aber das Innere von Wozzecks Hirn. Wir wollten deshalb keine realistisches Bühnenbild machen - dafür hat man auch kaum Zeit zwischen den Szenen, da uns klar war, dass die Musik nie stoppen soll. Wir zielen deshalb eher auf einen abstrakten Raum, der sich adaptiert. Das Publikum soll keine Zuflucht in einer allzu wörtlichen Auslegung finden.
Sie sind als Regisseur also auch mitleidslos den Zuschauern gegenüber...
"Wozzeck" soll für alle hart sein. Zugleich werden wir den Hauptmann, den Tambourmajor oder den Doktor nicht als groteske Charaktere kennzeichnen. Wir treffen tagtäglich auf solche Typen.
Für Ihre Arbeiten benötigen Sie explizit gute Darsteller. Wie stellen Sie sicher, dass sie diese Sängerschauspieler für ihre Inszenierungen bekommen?
Die Opernsänger werden in punkto Spiel mittlerweile besser. Vor allem bin ich beim Theater an der Wien mit in die Auswahl eingebunden. Das ist aber nicht überall der Fall. Einige größere Opernhäuser engagieren das gesamte Ensemble und suchen dann den Regisseur. Das ist bisweilen frustrierend.
Nun haben Sie in der Titelparte mit Florian Boesch einen ausdrucksstarken Darsteller. Zugleich dampft er ja gleichsam das Testosteron aus - ist also nicht gerade das Paradeopfer...
(lacht) Das haben Sie gesagt, nicht ich! Aber es stimmt, dass er nicht das typische Opfer ist, weil er eine sehr starke Persönlichkeit hat. Die Grundfrage bei "Wozzeck" ist einfach, wer der Verrückte im Stück ist. Ist das Wozzeck? Oder doch die anderen Figuren? Wozzeck hat Visionen eines Weltendes, aber manche sehen über die "Realität" hinaus - das bedeutet nicht, dass sie verrückt sind. Wozzeck wird von den anderen Figuren einfach an seine Grenze getrieben. Auch wenn er am Ende seine Freundin umbringt, hat man doch eine Sympathie für ihn, was ich sehr interessant finde.
All diese Erfahrungen haben Sie als jemand gesammelt, der expliziter Opernregisseur ist. Sehen Sie es kritisch, dass die Häuser verstärkt Film- und Schauspielregisseure für Operninszenierungen holen?
Ich hatte neun Jahre Erfahrung als Regieassistent, bevor ich meine erste Oper gemacht habe. Nun ist aber sehr in Mode gekommen, dass man Regisseure anderer Profession an die Oper holt. Das ist nicht sehr schmeichelhaft für meinen Berufsstand. Andererseits wird mehr Oper denn je gespielt in unseren Tagen. Die Frage ist also nicht so sehr, wer Regie führt, als viel mehr, dass die Leute noch in die Oper gehen.
Martin Fichter-Wöß/APA