Nachtkritik
Norma, eine mächtige Druidin im besetzten Gallien, soll ihr Volk mit einem Aufstand befreien. Doch sie ruft zum Frieden auf, denn sie liebt heimlich just den römischen Prokonsul Pollione und hat von ihm sogar zwei Kinder. Der aber betrügt sie mit Adalgisa, einer Novizin im Tempeldienst, die sich Norma nichts ahnend anvertraut. Ein unauflöslicher Konflikt zwischen Kopf und Herz beginnt und endet in Selbstaufopferung auf dem Scheiterhaufen...
Dieses psychologische Drama um politische Verantwortung, religiösen Auftrag und persönliche Gefühle erzählt Vincenzo Bellinis Oper "Norma" aus 1831, die nun in Graz zu sehen ist. Bei der Premiere am Samstagabend (6. Mai) zeigte die Inszenierung von Florentine Klepper: Gallien, Rom, Krieg, Frieden, Vertrauen, Verrat, Liebe, Tod: Das ist überall. Die Regisseurin, die schon zum Auftakt der Saison 2015/16 mit Franz Schrekers „Der ferne Klang“ eine bemerkenswerte Arbeit abgeliefert hatte, versetzt die Historie – auch mit Hilfe der Kostümbildnerin Adriane Westerbarkey – ins Alltägliche. Einen eindrucksvollen Beitrag dazu liefert Martina Segna, deren Bühnenbild samt geschickt eingesetzten Schiebeelementen vieles ist: Kriegsruine und ausgebeinte Fabrikshalle, Zufluchtsort und Altarraum, Verhörraum und Richtplatz.
Unter den Hauptrollen gab es zwei Hausdebüts: Die Norma gestaltete die aus Nowosibirsk stammende Sopranistin Irina Churilova, die beim Vorsingen der berühmten Cavatine „Casta diva“ als Allerletzte in der Reihe ihre Konkurrentinnen souverän aus dem Feld geschlagen hatte. Die Wahl fiel offenhörlich zu Recht, mit schön gerundetem Sopran meisterte sie die heikle Rolle, darstellerisch gäbe es noch etwas Luft nach oben. Und den Pollione sang der Kasache Medet Chotabaev mit kernigem Tenor, der sich in der Mittellage am wohlsten fühlt. So souverän wie berührend gestaltete Dshamilja Kaiser die Adalgisa. Auch das restliche Ensemble um Tigran Martirossian als Normas Vater Oroveso demonstrierte wie der sehr präsente Chor durchwegs Stärken.
Dirigent Robin Engelen musste mit dem Orchester und den Sängern anfangs ein paar Wackelkontakte verzeichnen, der Erste Kapellmeister fand in der diffizilen und farbenreichen Partitur Bellinis aber nach und nach – und vor allem in lyrischen Passagen - zu einem Guss. Großer Applaus für eine gelungene Produktion.
Zur Geschichte der Oper
Verdi schwärmte vom Anfang der „Norma“: „Niemand hat je Schöneres, gleicherart Himmlisches ersonnen“. Wagner kannte kein anderes „in seiner Art durchgeführtes Seelengemälde als das dieser wilden gallischen Seherin“. Und Schopenhauer lobte das Werk als „höchst vollkommenes Trauerspiel“.
Dabei hatte alles ganz unvollkommen begonnen: „Liebster Florimo“, wandte sich Vincenzo Bellini nach der Uraufführung 1831 in Mailand an seinen besten Freund, „ich schreibe dir unter dem Eindruck des Schmerzes, den ich dir nicht ausdrücken kann, den du allein aber verstehen kannst. Ich komme aus der Scala, von der ersten Vorstellung der Norma. Willst du es glauben? Fiasko!!! Fiasko!!! Glanzvolles Fiasko!!!“
Auch wenn Bellinis Verzweiflung nur kurz währte, weil die Stimmung im Publikum nach den ersten drei Abenden umschwenkte: Sein Zweiakter musste das Schicksal hinnehmen, eine der bekanntesten, aber auch verkanntesten Opern zu werden. Während die einen behaupteten, Bellinis ekstatische Melodieführung hätte den Belcanto verdorben, machte für die anderen gerade seine Gabe, seelische Zustände in feinsten Nuancen zu zeichnen, „Norma“ zu einem Paradebeispiel des romantischen Musiktheaters.
Bellini hatte die Partie der Norma Giuditta Pasta auf die geläufige Gurgel geschrieben, die dafür berühmt war, „in der Seele zu elektrisieren“, wie der französische Schriftsteller Stendhal schrieb. Dem erforderlichen Soprano drammatico d’agilità mit dunkler Ausdruckkraft, hoher Koloraturfähigkeit und großem Atem für die langen Melodien sollten auch später nur die Besten der Besten gewachsen sein: die geniale Maria Malibran etwa, Maria Callas, Joan Sutherland oder Edita Gruberova.
Michael Tschida