Heutige Musik gilt als spröde, komplex und schwer zugänglich, als harte Kost für das breite Publikum. Umso erstaunlicher war das dichte Getümmel, das sich im Wiener Konzerthaus zur Aufführung vor Georg Friedrich Haas‘ „11.000 Saiten für mikrotonal zueinander gestimmte Klaviere und Kammerorchester“ drängte. Auf dem freigeräumten Boden im Parkett saßen und lustwandelten die Neugierigen, die Ränge waren gefüllt bis zum letzten Platz.
Die angekündigten Superlative mögen den Andrang erklären. 50 Klaviere, im Abstand von je einem Fünfzigstel Halbton gestimmt, sollten miteinander konzertieren, begleitet vom Klangforum Wien. Pianinos der chinesischen Firma Hailun stehen in Hufeisenform um den Saal aufgereiht, durchnummeriert von 0 bis 49. Auf jedem hängt ein Zettel, der präzise Angaben über die Stimmung macht. Personal vom Veranstalter „Wien Modern“ verhindert, dass Neugierige an den aufgelegten I-pads herumfingern, die zeitgerecht die jeweilige Partiturseite zuspielen.
Alle Kategorien gesprengt
Die Musik von Haas, im August in Bozen uraufgeführt, sprengt 65 Minuten lang alle Kategorien. Der Komponist treibt die Komplexität des Geschehens bis über den Kipppunkt, jenseits dessen auf wunderbare Weise alles wieder einfach wird. Wache Offenheit ist die einzige Voraussetzung zum Verständnis dieses kosmischen Klangrauschs. Wer sie mitbringt, wird nach wenige Minuten mitgerissen vom Sog schwebender Toncluster, die buchstäblich von überall her auf das Ohr eindringen.
Die Idee entstand im Klavierwerk der Firma Hailun in der chinesischen Stadt Ningbo. Peter Paul Kainrath, der nicht nur das Klangforum Wien leitet, sondern auch Direktor der Bozener Busoni-Mahler-Stiftung ist, sah und hörte in einer Fabrikhalle 100 neue, noch nicht gestimmte Klaviere, die mechanisch 24 Stunden lang einem ohrenbetäubenden Härtetest unterzogen wurden. „Das ist Dein Nirwana“, rief er ins Telefon, als er Haas erreichte. Hailun stellte Klaviere und Stimmer zur Verführung, Haas schrieb die Musik.
Die verzückten Gesichter mancher Zuhörer, die sich mit geschlossenen Augen forttragen ließen, bestätigen die Intuition Kainraths. Die Erfahrung, die Haas seinem Publikum bereitet, ähnelt einer intensiven Meditation, geschaffen aus Bezügen zur Musik vieler Jahrhunderte und dem Willen des Komponisten, die Logik der Tonleitern hinter sich zu lassen. Das aufgewühlte Publikum dankte mit Begeisterung für die Entführung in unkartiertes Neuland.
Thomas Götz