Mit ihrem neuen Film "Nomadland" könnte Filmemacherin Chloé Zhao die heurigen Oscars dominieren. Der Roadtrip mit Frances McDormand in der Titelrolle ist für sechs Goldbuben nominiert: für den besten Film, die beste Regie, beste Hauptdarstellerin, das beste adaptierte Drehbuch sowie die beste Kamera und den besten Schnitt. Mit Preissegen in Venedig, bei den Golden Globes, den Bafta- oder DGA-Awards gilt "Nomadland" als klarer Favorit für die Oscarverleihung in der Nacht auf 26. April ‒ auch wenn "Mank" mit zehn Chancen die Nominierten-Liste anführt. Wie die Gala in diesem Pandemie-Jahr auch ausgeht, fest steht: Disney hebt sich die epische Arbeit über die modernen NomadInnen der USA fürs Kino auf und wir müssen noch warten, bis wir "Nomadland" auf der großen Leinwand sehen können. Die guten Nachrichten: Derweil kann man die ersten beiden Filme der 39-jährigen Autorenfilmerin streamen. Vor allem ihr bislang nicht zugängliches Debüt, "Songs My Brothers Taught Me" aus dem Jahr 2015, ist nun auf der Arthouse-Streamingplattform Mubi zugänglich. Und "The Rider" aus dem Jahr 2017 ist auf diversen Diensten wie u. a. Amazon, iTunes, Maxdome etc. zugänglich.
"Songs My Brothers Taught Me" hat schon jene Markenzeichen, für die die in Peking geborene und in China, England und den USA aufgewachsene Autorin und Regisseurin nun gefeiert wird: Chloé Zhao skizziert auf zärtliche, berührende Art und Weise die Vielfalt des amerikanischen Traums. Sie erzählt darin von ProtagonistInnen abseits bekannter Plots und spart dabei die Schattenseiten und bitteren Erkenntnisse von Menschen in schwierigen Lebensumständen nicht aus. Und ihre fast schon dokumentarisch anmutenden Arbeiten basierend auf langen Recherchen spielen in South Dakota, Nebraska, Nevada, Kalifornien und Arizona. Die Dialoge sind in ihren Filmen rar, dafür erzählen die Gesichter der AkteurInnen (vorwiegend Laiendarstellende) und die bildgewaltigen, aber zugleich poetischen Landschaften voller Steppen, Wüsten und Schlammseen jede Menge beeindruckende Geschichten.
Ihr Debüt beleuchtet den Alltag, die Sehnsüchte und Träume der indigenen Bevölkerung der Lakota im Pine-Ridge-Reservat in South Dakota. Im Zentrum der Story stehen die Geschwister Johnny (John Reddy) und seine kleine Schwester Jashaun (Jashaun St. John). Ihr älterer Bruder sitzt im Gefängnis. Der Vater, ein Rodeo-Reiter, verbrannte in seinem Haus, war nicht nur nie zu Hause, sondern hat noch insgesamt 25 Kinder mit neun unterschiedlichen Frauen gezeugt, und die Mutter ersäuft ihren Frust im schäbigen Haus, obwohl Alkohol eigentlich verboten ist. Der Dealer: ihr eigener Sohn, der eigentlich von einem besseren Leben mit seiner Freundin träumt. In Los Angeles. Weit weg. Beim Zähmen der Pferde müsse man aufpassen, erzählt Johnny an einer Stelle des Films, dass man ihre Seele nicht zerstöre. Das gelte auch für die Menschen im Reservat.
Chloé Zhao hat den amerikanischen Heimatbegriff erweitert und verzichtet im Wilden Westen gänzlich auf Klischees. Auch um den Aspekt der Wahrhaftigkeit angesichts ihrer Arbeit mit Laien-Darstellenden. In "The Rider" erzählt sie von einem versehrten Rodeo-Reiter und einem Traum, der angesichts zersplitterter Knochen und zerschnittener Gesichter plötzlich nicht mehr möglich war. Ihren großartigen Protagonisten Brady Jandreau lernte sie übrigens am Set von "Songs My Brothers Taught Me" kennen. "The Rider" ist vielleicht der atmosphärisch dichteste und wahrhaftigste Film der Filmemacherin.
Wie immer die Oscar-Gala 2021 auch ausgehen wird, trotz des Preisregens erwuchs in den letzten Wochen, angestoßen durch einen "Vulture"-Bericht, auch Kritik an der schöngefärbten, romantisierenden Darstellung der Amazon-ArbeiterInnen, die mit ihren Campervans durchs Land ziehen. Der Oscar-Favorit basiert auf dem Sachbuch „Nomadland: Surviving America in the Twenty-First Century“ von Jessica Bruder. Und es ist ihr Schritt in Richtung Hollywood. Ihr nächster Film kommt ohne Laien aus. Mit der Comic-Verfilmung "The Eternals" entert die 39-Jährige nämlich das SuperheldInnen-Universum. Auch demnächst im Kino Ihrer Wahl.