Bewertung: ***
Auch ohne britischen Akzent und dreistellige Nummer: Der Protagonist von „Tenet“ ist die perfekte James-Bond-Figur. Während schon länger darüber diskutiert wird, ob der nächste 007-Darsteller vielleicht kein Weißer mehr sein könnte, erfindet der Brite Christopher Nolan kurzerhand seinen eigenen afroamerikanischen Super-Geheimagenten. Und John David Washington („BlacKkKlansman“) verkörpert ihn elegant-cool, risikofreudig und in jedem Moment allzu selbstsicher.
Sein Spionage-Weltrettungsabenteuer samt Sci-Fi-Elementen und bombastischen Verfolgungsjagd-Stunts führt ihn auf eine Sightseeing-Tour um die ganze Welt, mit keinem Geringeren als Robert Pattinson als Sidekick. Ihr Gegenspieler im neuen „eiskalten Krieg“ ist Andrei Sator (Kenneth Branagh), ein postsowjetischer Oligarch mit Jacht und einer der #MeToo-Ära angemessenen toxisch-brutalen Männlichkeit. Seine Frau Kat (Elizabeth Debicki) dagegen wird als etwas anachronistische Mutterfigur zum Schlüssel innerhalb der Männer-Action.
„Tenet“ will ein überkomplexes Knobelrätsel sein wie schon „Inception“, als dessen Gegenstück er beworben wird. Willkommen im kognitiven Labyrinth von Drehbuchautor Christopher Nolan, das er seit seinem Durchbruch in „Memento“ immer wieder zelebriert. Objekte und Menschen lassen sich zeitlich invertieren, funktionieren quasi rückwärts in der Vorwärtsraumzeit wie eine Kugel, die in ihre Pistole zurückschießt. Das ist im Grunde eine kinematografische Idee.
Nolan spielt mit der Laufrichtung des Films selbst, mit der schon Pioniere des vorletzten Jahrhunderts wie George Méliès ihre Special Effects zu Attraktionen machten. Auch Nolan arbeitete überwiegend mit nicht-digitalen Effekten in der Kamera. Das passt, ist er doch einer der vehementesten Verfechter analoger Film- und Kinokultur. Zusammen mit Kameramann Hoyte Van Hoytema hat er wieder auf 65-mm-Filmmaterial gedreht.
„Tenet“ ist ein wuchtiger Spionage-Action-Film, der sich allzu ernst nimmt und sich auf die Bombastik der langen, eindrucksvollen Action-Szenen verlässt. Nur an der Oberfläche kopflastig, liefert er in Wahrheit eine Kino-Baucherfahrung. Und vielleicht ist es genau das, was das Kino in Coronazeiten im Gegensatz zum kleinen Bildschirm zu Hause bieten kann: immersives Staunen.
Marian Wilhelm