Bewertung: ****
Basierend auf einer echten Lüge“ erzählt Drehbuchautorin und Regisseurin Lulu Wang in ihrem zweiten Spielfilm („Posthumous“) eine persönlich gefärbte Familiengeschichte. Im Zentrum der Tragikomödie steht die Frage: Darf man einem geliebten Menschen die Wahrheit vorenthalten?
Für die in China geborene Billi, die ihr Glück als Schriftstellerin in New York versucht, bricht eine Welt zusammen, als sie erfährt, dass ihre Großmutter nur noch wenige Monate zu leben hat. Jene Frau, die sie von Kindesbeinen an unterstützt hat und die ihr emotionaler Anker ist. Noch härter trifft sie, dass der Familienclan beschließt – als Beweis der Liebe –, Nai Nai (Zhao Shuzhen) nichts von ihrem bevorstehenden Ende zu erzählen.
Die Sippe fingiert eine Fake-Hochzeit in China, um sich von der nichts ahnenden Matriarchin zu verabschieden. Aus Angst, Billi könnte sich verplappern, reisen ihre Eltern ohne sie in die alte Heimat – doch sie haben die Rechnung ohne ihre Tochter gemacht. „Die Menschen sterben nicht an Krebs, sondern aus Angst davor“, begründet Billis Mutter die Notlüge. Für Billi eine unbefriedigende Aussage, die sie in ein moralisches Dilemma und einen kulturellen Konflikt stürzt. Soll sie sich der Tradition und der „Weisheit“ der Älteren unterwerfen oder ihrem westlich geprägten Wertekompass folgen?
Mit Awkwafina (eigentlich Nora Lum) hat Wang eine wandlungsfähige Hauptdarstellerin gefunden, die diese Zerrissenheit überzeugend verkörpert. Wie die amerikanische Senkrechtstarterin mit asiatischen Wurzeln bietet das Drama „The Farewell“ authentische Einblicke in die fernöstliche Denk- und Lebensweise. „Im Westen glaubt ihr, euch gehört das Leben. Im Osten ist es nur der Teil eines Ganzen“, bringt der Bruder von Billis Vater die grundverschiedenen Gesellschaftsbilder auf den Punkt.
Jürgen Belko