Eine Künstlerin schießt ein Foto mit einem Selfiearm, um Zweisamkeit vorzutäuschen, ein ehemaliger Lehrer verzweifelt im Supermarkt, weil seine liebste Wurstsorte nicht mehr im Sortiment ist, und einem Rassisten werden im Zug die Schuhe gestohlen. Mit obskuren Miniaturen, die Lust auf mehr machen, beginnt die doppelbödige Beziehungskomödie "Einsamkeit und Sex und Mitleid".
36 Figuren kommen in Helmut Kraussers gleichnamigem Bestsellerroman aus dem Jahr 2009 vor. Auf - immer noch stolze - 13 zentrale Charaktere wird das Ensemble in Lars Montags episodischer Verfilmung verdichtet, wobei mit Maria Hofstätter und Eva Löbau zwei Österreicherinnen tragende Rollen in einem gemeinhin großartigen Ensemble aus Charakterdarstellern übernehmen. Damit man da die Orientierung nicht verliert, stellt Montag erstmal nur einige von ihnen vor, fächert das Geschehen dann auf, bis alle Beteiligten mehr oder weniger lose miteinander verbunden sind.
Nur einige Beispiele: Da ist etwa Ecki (Bernhard Schütz), der auf Rache sinnt, weil er nach dem Vorwurf der sexuellen Belästigung durch eine Schülerin seinen Lehrerberuf nicht mehr ausüben darf. Janine (Katja Bürkle) spricht für ihr Kunstprojekt laufend Menschen auf der Straße an, geht Dating aber virtuell an. Die frühpubertäre Swentja (Lilly Wiedemann) indes will sich von Zufallsbekanntschaft Mahmud (Hussein Eliraqui) 100 Euro geben lassen, damit er sie oral befriedigen darf, findet dann aber doch auch Gefallen an ihm. Auseinandergelebt haben sich Hobby-Imker Robert (Rainer Bock) und Neo-Veganerin Maschjonka (Hofstätter) - nicht zuletzt, weil sie nicht gutheißen kann, dass er arme Bienen quält. Bereits ausgezogen ist Supermarktleiter Uwe (Peter Schneider), weil Ehefrau Julia (Löbau) weiß, was sie (im Bett) will - und zwar nicht Uwe.
Die Figuren, die Krausser in der Adaption seines eigenen Romans zeichnet, sind nicht gerade sympathisch, und empathisch erst recht nicht. Sie alle eint neben der titelgebenden Einsamkeit gnadenlose Egozentrik, eine fehlgeleitete Wut und/oder Lust, eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben und dem eigenen Körper. Sex passiert hier nicht aus Liebe, sondern vielmehr als Performance. Die Selbstoptimierung erfolgt nicht durch Selbstreflexion, sondern über diverse Gerätschaften.
Wuttherapie
Auf der Leinwand wimmelt es dann auch nur so vor Smartphones und anderen Maschinen, die unser aller Leben vermeintlich besser machen sollen: eine neue Liebe wird skulptural per 3D-Drucker verewigt, eine intelligente Uhr zählt Schritte, ein selbstfahrender Staubsauger verhakt sich in den langen Haaren seiner Besitzerin. Da ist es erfrischend, wenn eine Figur zwecks Wuttherapie ins Analoge zurückkehrt und einen "Anger Room" besucht, um ein extra für diesen Zweck möbliertes Zimmer mit einem Baseballschläger zu zerstören. "Es ist doch Wahnsinn, wie schwierig wir es uns selbst machen, glücklich zu sein", sagt Montag dazu.
"Einsamkeit und Sex und Mitleid" zeichnet mit bissigem Dialogwitz, unvermittelt tragischen und durchaus berührenden Elementen sowie Tiefsinn ein bitterböses, unangenehmes Bild moderner zwischenmenschlicher Beziehungen. Nicht klar verortet, könnte die Satire praktisch in jeder Großstadt spielen, in der Menschen aneinander vorbei leben und virtuell wie real mitunter grausam miteinander umgehen. Das Lachen bleibt einem schon mal im Hals stecken, wenn es um ernste Themen wie Mobbing, Depression, Ausländerfeindlichkeit oder die Auswirkungen von Pornografie als Aufklärungsmodul geht.
Kammerspiel
Lars Montag, der bisher vorrangig Fernsehkrimis verantwortet hat, hält dem Publikum in seinem Kinodebüt nicht nur den Spiegel vor, sondern fordert es mit formalen Experimenten auch bewusst heraus. Zwischen beeindruckenden Settings wie einer Silent-Disco oder einer reinweißen Callgirl-Wohnung wechselnd, driftet das Geschehen immer wieder ins Surreale ab, wird teils in intensive Lichtsettings getaucht, von chorischem Soundtrack untermalt und kommt trotz Kammerspiel-Gefühl in bildgewaltigem Cinemascope daher.
Das hätte alles irgendwie zu viel sein und schief gehen können. Tatsächlich aber hat der wilde Episodenreigen seinen Reiz - nicht zuletzt dank wunderbar bizarrer Charaktere, für die man nach und nach dann doch ein wenig Mitleid entwickelt. "Einsamkeit und Sex und Mitleid" ist wesentlich sperriger, freizügiger und brachialer als der durchschnittliche deutsche Mainstream-Kinofilm. Und allein deshalb schon lohnend.