Einen Auftritt von Vicky Krieps vergisst man nicht. In Marie Kreutzers Sisi-Neuinterpretation "Corsage" hat sie viele davon. Schon eingangs fläzt sie auf einer Chaiselongue. Sie raucht und lacht und führt ihren Cousin Ludwig II. (Manuel Rubey) in die hohe Kunst der Ohnmacht-Vortäuschung ein: Körperspannung gegen null reduzieren, Kopf zur Seite fallen lassen, möglichst elegant wegknicken. Es ist ein typischer Krieps-Moment: wahrhaftig, humorvoll, und dennoch stets undurchschaubar. In "Corsage" wendet ihre Figur diesen Trick immer dann an, wenn ihr das Hofzeremoniell zu lästig, die Blicke zu aufdringlich werden. Und es ist jedes Mal ein Volksfest.
Die Luxemburgerin verkörpert die Kaiserin, die keine Lust mehr auf reine Repräsentationstätigkeiten hat. Eine Monarchin, die sich emanzipiert, die ausbricht, mit dem System Schluss macht. Es war die Schauspielerin Vicky Krieps, die der Drehbuchautorin und Regisseurin Marie Kreutzer vorschlug, doch einen "Sisi"-Film zu machen. Warum? "Mich hat nicht so sehr das Mädchenhafte interessiert, sondern ihr Freigeist", erzählte Krieps der Kleinen Zeitung im Interview. Und diesen Freigeist feiert die 39-Jährige in jeder Minute der feministischen, wilden Neuauflage, die die historischen Fakten nicht ganz ernst nimmt, die Figur aber umso mehr. Ein in Cannes uraufgeführter Film, der den Mythos der "Sissi"-Filme von Ernst Marischka schlicht zertrümmert.
Dafür erhielt sie nun nach dem Darstellerinnen-Preis der Schiene "Un certain Regard" in Cannes auch den Europäischen Filmpreis. Wegen Krankheit reiste sie nicht nach Island, sondern nahm via Videotelefonie im Jogginganzug an der Zeremonie teil. Mit feministischer Botschaft: "Ich möchte diesen Preis allen Frauen widmen, die gesehen und gehört werden müssen, die sich befreien und heilen müssen von diesen tiefen, tiefen Wunden, die wir seit Generationen tragen und die wir heilen müssen, damit Männer und Frauen wieder zusammenkommen können." Marie Kreutzers "Corsage" war dreimal nominiert, in den Kategorien beste Regie und bester Film musste sich die Österreicherin Ruben Östlunds Satire "Triangle of Sadness" geschlagen geben.
Die gebürtige Luxemburgerin Krieps bestand und brillierte 2017 in der Hollywood-Produktion "Der seidene Faden" an der Seite vom dreifachen Oscar-Preisträger Daniel Day-Lewis. Die ungewöhnliche Lovestory war ihr internationaler Durchbruch und öffnete der mehrsprachig aufgewachsenen Mimin international die Türen. Seitdem war sie u. a. in Emily Atefs "3 Tage in Quiberon zu sehen", in M. Night Shyamalans Thriller "Old", in der Hit-Serie "Das Boot", in der Thriller-Verfilmung "Beckett" oder in den zarten Dramen "Bergman Island" von Mia Hansen-Love, in "Für immer und ewig" von Mathieu Amalric oder aktuell im Kino in Emily Atefs "Mehr denn je".
Vicky Krieps' Spezialität: Frauen, die ausbrechen. Und aufbrechen. Sich emanzipieren. Sich und ihren Gefühlen dabei aber treu bleiben. "Corsage" ist die Krönung einer bislang aufsehenerregenden Schauspielkarriere. Abgeschlossen hat sie in diesem Jahr den nächsten Kinofilm: Margarethe von Trottas Film "Bachmann und Frisch", in dem Vicky Krieps die faszinierende, aber undurchschaubare Schriftstellerin Ingeborg Bachmann verkörpert und von der schwierigen Liebesbeziehung zu Max Frisch erzählt, wo soeben beim Suhrkamp-Verlag die Briefe publiziert worden sind. Regie-Ikone Margarethe von Trotta erzählte, warum sie Vicky Krieps unbedingt für diese Rolle haben wollte: "Sie hat eine Art, ernsthaft zu sein und plötzlich zu lächeln, dass das Gesicht erstrahlt. Das hat sonst niemand – und das hatte Ingeborg Bachmann auch." Kinostart 2023.