Es mutet wie eine Insel der Glückseligkeit an: Die Bäume hängen voller saftiger Pfirsiche, die Sonne taucht den Obstgarten in warmes Licht, die Oma erzählt Geschichten von früher, die Erntehelfer steigen nach oben, um die rotbauchigen Früchte zu ergattern. Dazwischen spielen Kinder Abfangen. Oder ziehen sich in ihre Fantasiewelt im Autowrack am See zurück. Es ist ihr Raumschiff. "Wir nähern uns der Sonne", ruft die sechsjährige Iris (Ainet Jounou) ihren Kusinen zu. Auf ihrer Nase thront eine kaputte Sonnenbrille.
Doch die jüngste Generation muss erfahren, dass jedes Paradies seine Halbwertszeit hat. Die Plantage, auf der die Familie Solé seit Generationen ihre Sommer verbringt, soll einer Solaranlage weichen.
Die katalanische Regisseurin Carla Simón erzählt in ihrem wunderbar melancholischen Familiendrama "Alcarràs" von der letzten Ernte der Solés – und vom Konflikt zwischen lieb gewonnen Traditionen und neuen Realitäten. Keiner der Familie will wahrhaben, dass diese Pfirsichsommer demnächst Geschichte sein werden. Der Urgroßvater hat während des Spanischen Bürgerkriegs einer befreundeten Familie Unterschlupf gewährt. Aus Dank haben die Pinyoles den Solés die Plantage vermacht. Per Handschlag, Dokumente existieren nicht. Der junge Pinyol lässt nun die Bagger auffahren.
Die Kamera wird zur Verbündeten im Mikrokosmos Hof: Sie beobachtet den geheimen Cannabis-Anbau von Teenager Roger (Albert Bosch), zeichnet die TikTok-Tänze von seiner Schwester Mariona (Xènia Roset) auf, begleitet den resignierten Opa Rogelio (Josep Abad) und seinen impulsiven Sohn Quimet (Jordi Pujol Dolcet) im Pfirsichgarten oder gleitet abends über die müden Körper der Erntenden.
Die Filmemacherin stammt selbst aus einer Obstbauernfamilie, ihr großartiges, unbefangenes Laien-Ensemble verhilft dem Film zusätzlich zu hoher Authentizität und Intensität. Es ist, als würde man selbst im warmen Spätnachmittagslicht durch die Plantage streifen. Auf der Berlinale wurde Carla Simón mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Im gleichnamigen Ort Alcarràs ist das Private längst ein Politikum. Zwischen innerfamiliären Konflikten streift der Film große Fragen von Bauernsterben, Ökologie und Ausbeutung jedoch nur. Gänzlich unbeeindruckt sind die Kinder. Die Szenen, in denen das Drama ihre Perspektive einnimmt, sind hinreißend und zugleich bitter: Sie schnitzen Speere, verschanzen sich in Höhlen, bauen Paletten-Häuser und rennen durch ihren letzten Pfirsichsommer. Bis ein Kran ihnen ihr Raumschiff entführt.
Bewertung: ****