Unter Tränen nahm die Französin Audrey Diwan den Golden Löwen für ihr Abtreibungsdrama "L'événement" entgegen - und nutzt die Bühne beim Filmfest Venedig für eine emotionale, politische Dankesrede. "Dies ist ein äußerst aktuelles Thema", sagte die 41-Jährige am Samstagabend. Denn selbst in Ländern, in denen das Recht auf Abtreibung bestehe, gebe es viele Hindernisse für Frauen. Eigentlich spielt ihr Film "L'événement" in Frankreich Anfang der 1960er Jahre. Doch die Parallelen zu aktuellen Entwicklungen wie derzeit im US-Bundesstaat Texas sind unübersehbar. "Ich habe den Film mit Wut, Lust, meinem Bauch, meinem Herzen und meinem Kopf gemacht", sagte Diwan. In vielen Ländern ist Abtreibung schließlich noch immer nicht legal. "Ich fühle mich erhört."
Tatsächlich erzählt sie die Geschichte, die auf den Erinnerungen der Autorin Annie Ernaux basieren, auf sehr eindringliche Weise. Im Mittelpunkt steht die junge Anne. Sie ist intelligent und steht kurz davor, an einer Universität angenommen zu werden. Doch dann wird sie schwanger und will abtreiben. Zur damaligen Zeit aber ist das illegal, kein Arzt will ihr helfen. Anne sucht daher andere Möglichkeiten und begibt sich damit selbst in Gefahr.
"Wir haben diesen Film geliebt", sagte der Jurypräsident, der Regisseur Bong Joon Ho ("Parasite", "Snowpiercer") bei der Preisverleihung der 78. Filmfestspiele Venedig. Die Entscheidung für "Happening", wie der Film auf Englisch heißt, sei einstimmig gewesen. Die Auszeichnung für Audrey Diwan setzt darüber hinaus ein anderes wichtiges Signal: Frauen hinter der Kamera werden immer sichtbarer, gerade im vergangenen Jahr feierten sie große Erfolge.
So gewann die gebürtige Chinesin Chloé Zhao beim Filmfest Venedig 2020 mit "Nomadland" den Goldenen Löwen und einige Monate später auch den Oscar für den besten Film. Beim Festival Cannes triumphierte im Sommer dann die Französin Julia Ducournau und nahm für "Titane" die Goldene Palme entgegen. Auf diese Erfolge wies in Venedig auch die Löwen-Gewinnerin Diwan hin: In einem Jahr gewinnen Frauen bei den Oscars, die Goldene Palme und den Goldenen Löwen - "das muss etwas zu bedeuten haben, das kann kein Zufall sein".
In Venedig ging die zweitwichtigste Auszeichnung, der Große Preis der Jury, an "Die Hand Gottes" des Italieners Paolo Sorrentino. Ansonsten aber setzten sich auch bei der Preisverleihung in Venedig in einem insgesamt starken Festivaljahrgang auch über Regisseurin Diwan hinaus auffällig viele Frauen durch. Die Neuseeländerin Jane Campion etwa, die schon mit "Das Piano" international erfolgreich war, wurde mit der Auszeichnung für die beste Regie geehrt - für ihr bildstarkes Drama "The Power of the Dog" über zwei Brüder (Benedict Cumberbatch und Jesse Plemons), die in den 1920ern gemeinsam eine Ranch in Montana betreiben.
Maggie Gyllenhaal hingegen nahm für ihr Regiedebüt "The Lost Daughter" die Auszeichnung für das beste Drehbuch entgegen. Die US-Schauspielerin, die zu den vielen Stars in Venedig gehörte, verfilmte damit den gleichnamigen Roman der italienischen Autorin Elena Ferrante. Hinzu kam die Auszeichnung für die Spanierin Penélope Cruz als beste Schauspielerin. In "Madres paralelas (Parallele Mütter)" von Pedro Almodóvar verkörpert sie eine von zwei Müttern, die ungeplant schwanger werden.
Mit ihrem Löwen in der Hand dankte die 47-jährige Oscar-Preisträgerin ("Vicky Cristina Barcelona") ihren eigenen "parallelen Müttern": ihrer Mutter und ihrer Schwiegermutter, also der Mutter ihres Mannes Javier Bardem. In einem weiteren bewegenden Moment des Abends erinnerte sie sich an das letzte Gespräch, das sie mit der im Juli gestorbenen Pilar Bardem hatte. Diese sei schon sehr schwach gewesen, als sie ihr zum Abschied zugeflüstert habe "Coppa Volpi". So heißt der Preis für die beste Schauspielerin in Venedig - genau die Auszeichnung, die die Spanierin nun gewonnen hat. Cruz konnte es nicht glauben. "Wie konnte sie das bloß wissen?"