Sicherlich muss man im Mittelalter nicht so glänzend aussehen wie auf dem roten Teppich in Venedig. Doch wie Matt Damon als Jean de Carrouges in Ridley Scotts Mittelalter-Drama „The Last Duel“ durch die Normandie im Jahr 1386 läuft, kann man wirklich nicht ganz ernst nehmen: als feister Ritter mit buschigem Kinnbart und, herrjemine, radikalster Vokuhila-Frisur. Puh! Damit kann es hier nur noch sein alter Buddy Ben Affleck aufnehmen, der in einer Nebenrolle als Graf ausgeprägte Schwächen für Frauen, Alkohol und ziemlich lächerlich blondierte Haare hat.
So lächerlich diese Styling-Entscheidungen auch sein mögen, sie tragen doch, wenn auch unfreiwillig, eindeutig zur Unterhaltsamkeit des Films bei, in dem immerhin einer verlässlich gut aussieht und in der Rüstung ein Hingucker ist: Adam Driver als Knappe Jacques Le Gris, der sich eine Rivalität mit de Carrouges liefert. Denn Le Gris besitzt bereits einen Titel und ein Stück Land, was ihm nach dessen Ansicht beides nicht zusteht – und seine Frau Marguerite (Jodie Comer) will er auch. Als sie ihn nach einer Begegnung beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben, kommt es zum letzten Duell der beiden Männer.
Der Dreh von Regisseur Scott bei diesem üppig ausgestatteten, von brutalen Schlachtszenen durchzogenen Film: In zweieinhalb Stunden zeigt er die Ereignisse aus den Perspektiven der drei Beteiligten. Am interessantesten wird „The Last Duel“ dabei, als die Vergewaltigung und deren Folgen zur damaligen Zeit aus weiblicher Sicht geschildert werden. Hollywood-Regie-Veteran Scott, der Klassiker wie „Alien“ und „Blade Runner“ geschaffen hat, wurde anlässlich der Premiere in Venedig mit dem Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Mit dabei: Damon und Affleck, deutlich besser frisiert, und Comer, ohnehin gut frisiert.
Keine ausgeprägten Favoriten
Die drei sorgten für einen großen Glamourshowdown vor der heutigen Preisverleihung, nachdem sich nach der Star-verschwenderischen ersten Festivalhälfte in den vergangenen Tagen kaum noch Hollywoodprominenz auf dem Lido blicken ließ. Diese Glamourimplosion ist aber nichts Ungewöhnliches in Venedig. Dafür bekam das internationale Kunstkino seinen Platz und damit dringlichere Themen wie die Ausbeutung von Billigarbeitern in Mexiko („La caja“), die harten Folgen der Globalisierung auf den Arbeitsmarkt („Un autre monde“) oder russische Kriegsverbrechen 2014 in der Ukraine („Vidblysk“). Zu den Beiträgen mit erhöhtem Löwen-Potential gehört dabei „Żeby nie było śladów (Leave no traces)“ von Jan P. Matuszyński. Darin wird nach einer wahren Begebenheit der Fall des jungen Grzegorz Przemyk aufgegriffen, dem Sohn einer oppositionellen Lyrikerin, der in Warschau 1983 durch Polizeigewalt zu Tode kam – mit seinem Freund Jurek (Tomasz Ziętek) als einzigen Zeugen. Etwas verloren in seiner 160-minütigen Ausführlichkeit, aber letztlich doch eindringlich führt er ewig aktuell den scheinbar ausweglosen Kampf der Einzelnen gegen einen übermächtigen Staatsapparat vor Augen.
Ein völlig eindeutiger Favorit, an dem es kein Vorbei gibt, ist „Leave no traces“ nicht. Überhaupt hat sich ein heißer Anwärter auf den Hauptpreis bis kurz vor Schluss nicht herauskristallisiert. Dass bedeutet allerdings nicht, dass der Wettbewerb in diesem Jahr schwach war. Im Gegenteil, mit seiner 78. Ausgabe zeigte sich das Festival in Venedig und damit auch das Kino in recht guter Form und präsentierte ein dynamisches Programm voller Kontraste: vom französischen Abtreibungsdrama „L’événement“ über den stylischen B-Movie-Trip „Mona Lisa and the Blood Moon“ bis zum seltsamen Fantasydrama „Freaks Out“ mit Franz Rogowski als psychopathischem Nazi, in der ein paar Zirkuskünstler mit X-Men-artigen Fähigkeiten Juden vor der Ermordung retten.
Sollten sich, wie in den vergangenen Festival-Jahren, wieder spätere Oscar-Gewinner in der Auswahl versteckt haben, waren sie vor allem in der ersten Hälfte zu sehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Jane Campions bildgewaltige Romanverfilmung „The Power of the Dog“ über die Entfremdung zweier Brüder und unterdrückte Sexualität nicht nur in Venedig ausgezeichnet wird, sondern nächstes Jahr auf den Nominierungslisten auftaucht. Auch Kristen Stewart hat sicher gute Chancen, legte sie sich doch voll hinein in ihre Rolle als traurige Prinzessin Diana in Pablo Larraíns deutscher Koproduktion „Spencer“. Worauf die Jury und ihr Präsident anspringen werden? Es bleibt spannend bis zum Schluss.
Sascha Rettig